Charlie Kirk und die Propaganda der Tragödie
Als am 20. April 1999 bei einem Amoklauf an der Columbine High School in Denver sechzehn Menschen (inklusive der Täter) starben, dauerte es nicht lang, bis ein Sündenbock in Form einer provokanten amerikanischen Metalband gefunden war. In den 2000ern und 2010ern hielten sich Debatten über Waffengewalt an Schulen allzu häufig an der Dämonisierung so genannter Killerspiele auf. Die Ermordung des Polit-Influencers Charlie Kirk ist ein weiteres Beispiel dafür, wie eine Tragödie sofort zur Projektionsfläche für Ideologie wird, noch bevor der Leichnam überhaupt kalt ist.
Von Bent Erik Scholz
Von Bent Erik Scholz
Charlie Kirk galt als Meinungsführer des konservativen Spektrums auf Social Media, US-Präsident Donald Trump sagte, seine Wiederwahl habe er auch der TikTok-Aktivitäten von Kirk zu verdanken. Er machte republikanische Positionen salonfähig, predigte Bibeltreue, war vehementer Abtreibungsgegner und Befürworter von Waffenbesitz. Das Format seiner Wahl, welches häufig kopiert wurde: Kirk begab sich in universitäre Milieus, baute einen Stand auf, an dem er politische Gegner zur Debatte einlud. Dass er dabei häufig mit Totschlagargumenten arbeitete, die Überlegenheit der Vorbereitungszeit, die er im Vergleich zu seinen Gesprächspartnern hatte, ausspielte, und zwar augenscheinlich souverän, aber bei weitem nicht immer fair auftrat - geschenkt. Dass einige seiner Aussagen für manchen, darunter auch ich, schwer zu ertragen sind, ebenso.
Denn Charlie Kirk war auch ein Privatmensch, er war Familienvater. Auf der Veranstaltung, bei der er erschossen wurde, waren sowohl seine Ehefrau als auch seine Tochter zugegen. Sie mussten mit ansehen, wie ihr Mann, ihr Vater durch einen präzisen Schuss in den Hals aus dem Leben gerissen wurde. Ein Knall, ein Stoß durch den ganzen Körper, dann sehr viel Blut, und ein Mensch sackt zusammen, fällt von seinem Stuhl und ist tot.
Das ist ein Moment, in dem man gut daran tut, sich für einen kurzen Moment zurückzuhalten. Die so direkte Konfrontation mit einem derart brutalen Tod müsste in vernünftigen Menschen zumindest, was das eigene Kommentieren der Situation angeht, ein wenig Demut hervorbringen. Was jedoch geschieht stattdessen? Charlie Kirk ist kaum offiziell für tot erklärt, da wird seine Ermordung schon zum politischen Kapital. Nicht einmal 24 Stunden, nicht einmal eine Nacht verstreichen, bevor Kirk von den einen zum Meme und von den anderen zum Märtyrer gemacht wird. Unverpixelte Aufnahmen des tödlichen Schusses verbreiten sich in Windeseile überall in den sozialen Medien, und man fragt sich, wie viel das noch mit Menschenwürde zu tun haben soll, seine Schaulust an einem brutalen Tod zu befriedigen.
Es ist eine interessante Eigenart der politischen Gegenwart, dass alles zur sofortigen Rezeption freigegeben wird, es offenbar keinerlei Skrupel mehr gibt, keinen Moment, in dem politische Figuren oder Kommentatoren soweit einen klaren Kopf bewahren können, dass sie sich nicht im nächstbesten Moment darauf stürzen, um die Schlagzeilenwelle mitzureiten. Es dauert Minuten, bis zahlreiche Statements erscheinen. Es ist noch nicht einmal ein Tatverdächtiger festgenommen, bevor alle schon ganz genau zu wissen glauben, was sich abgespielt hat und wie es zu bewerten ist.
Am Morgen nach der Ermordung Kirks lädt der Nachrichtensender WELT den Kommentator Gunnar Schupelius ein. Dieser ist sich sofort sicher: ,,Das ist eben ein Zeichen für die Stimmung, die an den amerikanischen Universitäten herrscht. Eine Stimmung der Intoleranz. Hier wird Hass geschürt auf alles, was als konservativ und rechts eingestuft wird oder auch ist, von Seiten der aktiven Linken, der woken Bewegung an den Universitäten. [...] Auch hier ist es so, dass Konservative an den Universitäten nichts mehr zu sagen haben und dass sie sich auch kaum noch trauen, dort aufzutreten mit einer prononciert konservativen oder rechten politischen Einstellung. Das heißt, wir sind auch hier kurz vor der Gewalt an den Universitäten, wenn man sich das mal ganz genau anschaut, und vor der Hegemonie der Linken, die die Universitäten beherrschen." Wenige Stunden ist der Vorfall da erst her. Noch nicht einmal das FBI weiß zu diesem Zeitpunkt, wer hinter dem Mord steckt, aber Schupelius ist sich sicher: es muss eine latent gewaltbereite Linke dahinterstecken, die uns alle, auch in Deutschland, immanent bedroht, eine Meinungsdiktatur, die bei Regimegegnern keine Zurückhaltung kennt.
Selbst den größten Kritikern des akademisch-privilegierten Linksliberalismus, dessen Einfluss im universitären Milieu niemand wird leugnen wollen, muss diese populistische Angstmacherei und Anstachelung zynisch vorkommen. Zumal vielen Antworten auf das Attentat, die man online nachverfolgen kann, fast eine Art Rache-Impetus innewohnt. Häufig wird hierbei zuletzt der Vergleich zu George Floyd gezogen, nach dessen Tod es ebenso schnell zu hochgradig politisierten Reaktionen kam. Inhalt dieses Vergleichs ist jedoch selten, dass beiden Schicksalen ein gewisser Respekt gebührt, sondern es schwingt nahezu Empörung darüber mit, dass der Tod von George Floyd überhaupt irgendeine politische Beachtung erhält. Als dürfe nicht beides gleich grausam sein.
Dies ist die Krankheit des modernen Diskurses: es gibt zu viele Tragödien, deren Ausschlachtung durch Aktivisten und Kommentatoren nicht opportun genug ist, als dass sie im öffentlichen Narrativ gepusht werden könnten. Am 7. September, drei Tage vor der Ermordung Kirks, gab es in den Vereinigten Staaten drei Schießereien. In einer Bar in Ohio eskalierte ein Streit zwischen einigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, es gab sechs Verletzte. In Texas hatte eine Schießerei aus einem fahrenden Auto heraus zwei Todesopfer zur Folge. In Cleveland wurden vier Kinder und Jugendliche zwischen 3 und 15 Jahren angeschossen. Gewaltdelikte mit Schusswaffen sind trauriger Alltag in den Vereinigten Staaten. Nahezu täglich sterben Menschen in Folge von Schießereien.
Aus Sicht dieses Umstands verbietet sich jegliche Form von Instrumentalisierung, aber auch von Häme, völlig von selbst. Egal wie kontrovers Charlie Kirk gewesen sein mag, niemand verdient es, auch für womöglich grenzwertige Positionen erschossen zu werden. Im Umgang gerade mit Prominenten wird dies häufig vergessen. Wer derart in der Öffentlichkeit steht, verliert nicht selten in den Augen des Zuschauers einen Teil seiner Menschlichkeit. Es ist eine der Schattenseiten, die mit dieser Form von Exposition einhergehen. Innerhalb von Minuten nach der Nachricht über das Attentat wurden so Zitate von Kirk in den sozialen Medien geteilt. Darunter Aussagen wie jene aus dem Jahr 2023, als Kirk sinngemäß sagte, das Recht auf Waffenbesitz sei leider ein paar Tote durch Erschießen pro Jahr wert. Dieses Zitat in seinem unglücklichen neuen Kontext noch mal hervorzuholen, ist selbstverständlich naheliegend, vor allem jedoch ist es billig. Man stelle sich vor, es sei nicht eine ominöse Figur aus dem Internet auf diese Weise gestorben, sondern ein Onkel, ein Nachbar oder ein Arbeitskollege. Auf Threads postet eine Person einen hämischen Kommentar über jene, die betonen, dass Charlie Kirk neben seiner politischen Funktion auch ein Ehemann und Vater gewesen sei, und schreibt, um den posthumen Respekt lächerlich zu machen, das träfe ja auch auf Hitler zu. Nicht nur, dass der inflationierte Hitlervergleich eine Respektlosigkeit gegenüber den Opfern der Nazidiktatur ist, er ist in diesem Fall auch besonders bescheuert, weil rein faktisch falsch.
Die Fälle selektiver Sensibilität und Trauer häufen sich neuerdings in den Vereinigten Staaten. Sei es der Fall einer Ukrainerin, die in einer U-Bahn erstochen wurde, oder der Amoklauf durch einen offenbar transidentitären Täter, der bisher größte in diesem Jahr. Sie geschehen, und werden sofort verwertet, um Agenden zu pushen, von der einen oder der anderen Seite. Wie plump und opportun das ist, erkennt man, wenn mit diesen Tragödien Kritiker mundtot gemacht werden sollen. Dies passiert in letzter Zeit, spätestens seit dem Anschlagsversuch auf Donald Trump, immer häufiger. Im Falle Charlie Kirks beteiligt sich daran sogar der US-Präsident in einem offiziellen Statement.
Der Late-Night-Moderator Stephen Colbert eröffnet seine Show in der Nacht nach dem Attentat auf Kirk mit einem besonnenen, zurückhaltenden Monolog, in welchem er sagt, er hoffe inständig, dass diese Form politischer Gewalt keine Indikation dessen sei, was den Vereinigten Staaten bevorstehe. Auf Twitter wird er dafür zerrissen, ihm wird gar eine Mitschuld übertragen, da Colbert einer der lautesten und gelegentlich auch polemischeren Kritiker Trumps und seiner Bewegung war. Als müsse man jedem, mit dem man sich streitet, den grausamen Tod gönnen. Ein auf Social Media bekannter Unterstützer der Demokratischen Partei, Dean Withers, befindet sich gerade in einem Livestream, als die Nachricht vom Tode Kirks eintrifft. Ihm kommen die Tränen, und auch er wird ausgerechnet von Republikanern sofort mit Häme, Spott und Vorwürfen der Mitschuld übergossen. Hass auf Konservative hätte er geschürt, das Blut Kirks klebe auch an seinen Händen. Schaut man sich den Content von Dean Withers an, stellt man fest: vom Aufbau her ist er jenem von Charlie Kirk erstaunlich ähnlich, nur von der politischen Gegenseite.
All diese verbalen Scharmützel sind Ablenkungsdebatten, die der Gesellschaft in einem Moment, in dem ein kollektives Durchatmen und Raffen angemessen wäre, mittels perfider Propaganda Angst vor ihrem Nachbarn machen sollen. Der Zusammenhalt und die Besonnenheit sind in unserem Medienzeitalter schlichtweg nicht mehr gewünscht. Mittlerweile sind die Sündenböcke zwar nur noch selten Rockmusiker oder Computerspiel-Entwickler. Aber Feindbilder verkaufen sich auch weiterhin, ob nun der latent gewaltbereite Linksextremist, der angeblich die Abschaffung jeglicher Hierarchie, Konvention und Vernunft zur Not mit absoluter Brutalität durchsetzt - oder aber der Nazi, der alles, was nicht seinem Idealbild des Übermenschen entspricht, sofort über den Haufen ballert. Oder aber: der radikalreligiöse, primitive Killer, der den fortschrittlichen und säkularisierten Westen immanent bedroht. Die Debatte besteht folglich daraus, dem Gegner die Nähe zu diesem oder jenem Extrem zu unterstellen und damit seine Stilllegung bis Ausrottung zu fordern.
Nach einem Attentat wie jenem auf Charlie Kirk haben Medienschaffende, so genannte Analysten und Lautsprecher in sozialen Medien sofort sehr viele Antworten parat. Fragen indes werden eher selten gestellt. Zum Beispiel diese hier:
Wie kann es sein, dass bei einem solchen Event, wie es Augenzeugen berichten, keine umfangreichen Einlasskontrollen erfolgten?
Wie konnte man vergessen, die umliegenden Dächer abzusichern?
Was sagt die ungeheure Präzision des tödlichen Schusses auf ein sich bewegendes Ziel über den Schützen aus?
Welchen Anteil an der Ermordung hatte die Fahrlässigkeit des Sicherheitspersonals?
Hat man aus dem Anschlagsversuch auf Donald Trump nichts gelernt?
Hat man das Risiko in Kauf genommen?
Ist es wirklich eine gute Idee, den Besitz von Schusswaffen als Grundrecht zu verankern?
,,Dieser Text entstand vor der Festnahme eines Tatverdächtigen."
12.09.25
*Bent-Erik Scholz arbeitet als freier Mitarbeiter für den RBB
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Denn Charlie Kirk war auch ein Privatmensch, er war Familienvater. Auf der Veranstaltung, bei der er erschossen wurde, waren sowohl seine Ehefrau als auch seine Tochter zugegen. Sie mussten mit ansehen, wie ihr Mann, ihr Vater durch einen präzisen Schuss in den Hals aus dem Leben gerissen wurde. Ein Knall, ein Stoß durch den ganzen Körper, dann sehr viel Blut, und ein Mensch sackt zusammen, fällt von seinem Stuhl und ist tot.
Das ist ein Moment, in dem man gut daran tut, sich für einen kurzen Moment zurückzuhalten. Die so direkte Konfrontation mit einem derart brutalen Tod müsste in vernünftigen Menschen zumindest, was das eigene Kommentieren der Situation angeht, ein wenig Demut hervorbringen. Was jedoch geschieht stattdessen? Charlie Kirk ist kaum offiziell für tot erklärt, da wird seine Ermordung schon zum politischen Kapital. Nicht einmal 24 Stunden, nicht einmal eine Nacht verstreichen, bevor Kirk von den einen zum Meme und von den anderen zum Märtyrer gemacht wird. Unverpixelte Aufnahmen des tödlichen Schusses verbreiten sich in Windeseile überall in den sozialen Medien, und man fragt sich, wie viel das noch mit Menschenwürde zu tun haben soll, seine Schaulust an einem brutalen Tod zu befriedigen.
Es ist eine interessante Eigenart der politischen Gegenwart, dass alles zur sofortigen Rezeption freigegeben wird, es offenbar keinerlei Skrupel mehr gibt, keinen Moment, in dem politische Figuren oder Kommentatoren soweit einen klaren Kopf bewahren können, dass sie sich nicht im nächstbesten Moment darauf stürzen, um die Schlagzeilenwelle mitzureiten. Es dauert Minuten, bis zahlreiche Statements erscheinen. Es ist noch nicht einmal ein Tatverdächtiger festgenommen, bevor alle schon ganz genau zu wissen glauben, was sich abgespielt hat und wie es zu bewerten ist.
Am Morgen nach der Ermordung Kirks lädt der Nachrichtensender WELT den Kommentator Gunnar Schupelius ein. Dieser ist sich sofort sicher: ,,Das ist eben ein Zeichen für die Stimmung, die an den amerikanischen Universitäten herrscht. Eine Stimmung der Intoleranz. Hier wird Hass geschürt auf alles, was als konservativ und rechts eingestuft wird oder auch ist, von Seiten der aktiven Linken, der woken Bewegung an den Universitäten. [...] Auch hier ist es so, dass Konservative an den Universitäten nichts mehr zu sagen haben und dass sie sich auch kaum noch trauen, dort aufzutreten mit einer prononciert konservativen oder rechten politischen Einstellung. Das heißt, wir sind auch hier kurz vor der Gewalt an den Universitäten, wenn man sich das mal ganz genau anschaut, und vor der Hegemonie der Linken, die die Universitäten beherrschen." Wenige Stunden ist der Vorfall da erst her. Noch nicht einmal das FBI weiß zu diesem Zeitpunkt, wer hinter dem Mord steckt, aber Schupelius ist sich sicher: es muss eine latent gewaltbereite Linke dahinterstecken, die uns alle, auch in Deutschland, immanent bedroht, eine Meinungsdiktatur, die bei Regimegegnern keine Zurückhaltung kennt.
Selbst den größten Kritikern des akademisch-privilegierten Linksliberalismus, dessen Einfluss im universitären Milieu niemand wird leugnen wollen, muss diese populistische Angstmacherei und Anstachelung zynisch vorkommen. Zumal vielen Antworten auf das Attentat, die man online nachverfolgen kann, fast eine Art Rache-Impetus innewohnt. Häufig wird hierbei zuletzt der Vergleich zu George Floyd gezogen, nach dessen Tod es ebenso schnell zu hochgradig politisierten Reaktionen kam. Inhalt dieses Vergleichs ist jedoch selten, dass beiden Schicksalen ein gewisser Respekt gebührt, sondern es schwingt nahezu Empörung darüber mit, dass der Tod von George Floyd überhaupt irgendeine politische Beachtung erhält. Als dürfe nicht beides gleich grausam sein.
Dies ist die Krankheit des modernen Diskurses: es gibt zu viele Tragödien, deren Ausschlachtung durch Aktivisten und Kommentatoren nicht opportun genug ist, als dass sie im öffentlichen Narrativ gepusht werden könnten. Am 7. September, drei Tage vor der Ermordung Kirks, gab es in den Vereinigten Staaten drei Schießereien. In einer Bar in Ohio eskalierte ein Streit zwischen einigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, es gab sechs Verletzte. In Texas hatte eine Schießerei aus einem fahrenden Auto heraus zwei Todesopfer zur Folge. In Cleveland wurden vier Kinder und Jugendliche zwischen 3 und 15 Jahren angeschossen. Gewaltdelikte mit Schusswaffen sind trauriger Alltag in den Vereinigten Staaten. Nahezu täglich sterben Menschen in Folge von Schießereien.
Aus Sicht dieses Umstands verbietet sich jegliche Form von Instrumentalisierung, aber auch von Häme, völlig von selbst. Egal wie kontrovers Charlie Kirk gewesen sein mag, niemand verdient es, auch für womöglich grenzwertige Positionen erschossen zu werden. Im Umgang gerade mit Prominenten wird dies häufig vergessen. Wer derart in der Öffentlichkeit steht, verliert nicht selten in den Augen des Zuschauers einen Teil seiner Menschlichkeit. Es ist eine der Schattenseiten, die mit dieser Form von Exposition einhergehen. Innerhalb von Minuten nach der Nachricht über das Attentat wurden so Zitate von Kirk in den sozialen Medien geteilt. Darunter Aussagen wie jene aus dem Jahr 2023, als Kirk sinngemäß sagte, das Recht auf Waffenbesitz sei leider ein paar Tote durch Erschießen pro Jahr wert. Dieses Zitat in seinem unglücklichen neuen Kontext noch mal hervorzuholen, ist selbstverständlich naheliegend, vor allem jedoch ist es billig. Man stelle sich vor, es sei nicht eine ominöse Figur aus dem Internet auf diese Weise gestorben, sondern ein Onkel, ein Nachbar oder ein Arbeitskollege. Auf Threads postet eine Person einen hämischen Kommentar über jene, die betonen, dass Charlie Kirk neben seiner politischen Funktion auch ein Ehemann und Vater gewesen sei, und schreibt, um den posthumen Respekt lächerlich zu machen, das träfe ja auch auf Hitler zu. Nicht nur, dass der inflationierte Hitlervergleich eine Respektlosigkeit gegenüber den Opfern der Nazidiktatur ist, er ist in diesem Fall auch besonders bescheuert, weil rein faktisch falsch.
Die Fälle selektiver Sensibilität und Trauer häufen sich neuerdings in den Vereinigten Staaten. Sei es der Fall einer Ukrainerin, die in einer U-Bahn erstochen wurde, oder der Amoklauf durch einen offenbar transidentitären Täter, der bisher größte in diesem Jahr. Sie geschehen, und werden sofort verwertet, um Agenden zu pushen, von der einen oder der anderen Seite. Wie plump und opportun das ist, erkennt man, wenn mit diesen Tragödien Kritiker mundtot gemacht werden sollen. Dies passiert in letzter Zeit, spätestens seit dem Anschlagsversuch auf Donald Trump, immer häufiger. Im Falle Charlie Kirks beteiligt sich daran sogar der US-Präsident in einem offiziellen Statement.
Der Late-Night-Moderator Stephen Colbert eröffnet seine Show in der Nacht nach dem Attentat auf Kirk mit einem besonnenen, zurückhaltenden Monolog, in welchem er sagt, er hoffe inständig, dass diese Form politischer Gewalt keine Indikation dessen sei, was den Vereinigten Staaten bevorstehe. Auf Twitter wird er dafür zerrissen, ihm wird gar eine Mitschuld übertragen, da Colbert einer der lautesten und gelegentlich auch polemischeren Kritiker Trumps und seiner Bewegung war. Als müsse man jedem, mit dem man sich streitet, den grausamen Tod gönnen. Ein auf Social Media bekannter Unterstützer der Demokratischen Partei, Dean Withers, befindet sich gerade in einem Livestream, als die Nachricht vom Tode Kirks eintrifft. Ihm kommen die Tränen, und auch er wird ausgerechnet von Republikanern sofort mit Häme, Spott und Vorwürfen der Mitschuld übergossen. Hass auf Konservative hätte er geschürt, das Blut Kirks klebe auch an seinen Händen. Schaut man sich den Content von Dean Withers an, stellt man fest: vom Aufbau her ist er jenem von Charlie Kirk erstaunlich ähnlich, nur von der politischen Gegenseite.
All diese verbalen Scharmützel sind Ablenkungsdebatten, die der Gesellschaft in einem Moment, in dem ein kollektives Durchatmen und Raffen angemessen wäre, mittels perfider Propaganda Angst vor ihrem Nachbarn machen sollen. Der Zusammenhalt und die Besonnenheit sind in unserem Medienzeitalter schlichtweg nicht mehr gewünscht. Mittlerweile sind die Sündenböcke zwar nur noch selten Rockmusiker oder Computerspiel-Entwickler. Aber Feindbilder verkaufen sich auch weiterhin, ob nun der latent gewaltbereite Linksextremist, der angeblich die Abschaffung jeglicher Hierarchie, Konvention und Vernunft zur Not mit absoluter Brutalität durchsetzt - oder aber der Nazi, der alles, was nicht seinem Idealbild des Übermenschen entspricht, sofort über den Haufen ballert. Oder aber: der radikalreligiöse, primitive Killer, der den fortschrittlichen und säkularisierten Westen immanent bedroht. Die Debatte besteht folglich daraus, dem Gegner die Nähe zu diesem oder jenem Extrem zu unterstellen und damit seine Stilllegung bis Ausrottung zu fordern.
Nach einem Attentat wie jenem auf Charlie Kirk haben Medienschaffende, so genannte Analysten und Lautsprecher in sozialen Medien sofort sehr viele Antworten parat. Fragen indes werden eher selten gestellt. Zum Beispiel diese hier:
Wie kann es sein, dass bei einem solchen Event, wie es Augenzeugen berichten, keine umfangreichen Einlasskontrollen erfolgten?
Wie konnte man vergessen, die umliegenden Dächer abzusichern?
Was sagt die ungeheure Präzision des tödlichen Schusses auf ein sich bewegendes Ziel über den Schützen aus?
Welchen Anteil an der Ermordung hatte die Fahrlässigkeit des Sicherheitspersonals?
Hat man aus dem Anschlagsversuch auf Donald Trump nichts gelernt?
Hat man das Risiko in Kauf genommen?
Ist es wirklich eine gute Idee, den Besitz von Schusswaffen als Grundrecht zu verankern?
,,Dieser Text entstand vor der Festnahme eines Tatverdächtigen."
12.09.25
*Bent-Erik Scholz arbeitet als freier Mitarbeiter für den RBB
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Kommentare
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Hösel Yvonne12.09.2025 23:01Da warst du schneller, ich schreibe meine Meinung gerade noch ins Reine, wird ähnliche Punkte geben, aber doch auch paar andere, ich schicke es dann morgenAntworten
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