Mythos Palästina
Wie Geschichte verdrängt, ein Staat erfunden und ein Konflikt ideologisch aufgeladen wurde.
von Serdar Somuncu
von Serdar Somuncu
Die Geschichte Palästinas ist eine komplizierte, oft emotional aufgeladene Erzählung, die über Jahrhunderte hinweg von äußeren Mächten geprägt, verzerrt und instrumentalisiert wurde. Der Begriff ,,Palästina" selbst ist dabei kein Ausdruck einer alten nationalen Identität, sondern vielmehr eine historische Fremdbezeichnung: Er geht auf die Römer zurück, die nach der Niederschlagung des jüdischen Bar-Kochba-Aufstands im Jahr 135 n. Chr. die Region ,,Syria Palaestina" nannten - in bewusster Abgrenzung zum jüdischen Erbe. Diese Bezeichnung, angelehnt an die längst verschwundenen Philister, wurde zur kolonialen Etikette, nicht zur Basis eines Staates oder einer eigenständigen Nation. In den folgenden Jahrhunderten - unter byzantinischer, islamischer, osmanischer und britischer Herrschaft - existierte Palästina nie als souveräner Staat mit eigenen Institutionen oder klaren Grenzen.
Dass ,,Palästina" heute dennoch als nationaler Begriff verwendet wird, ist vor allem eine Folge politischer Narrative, die nach der Gründung Israels 1948 an Kraft gewannen. Dabei geht es weniger um die historische Realität als vielmehr um ein ideologisches Konstrukt, das von verschiedenen Akteuren gezielt eingesetzt wurde, um das Existenzrecht Israels zu delegitimieren. Der fiktive Rückbezug auf einen nie existenten palästinensischen Staat dient oft nicht der Lösung des Konflikts, sondern dessen Verhärtung.
Doch um diesen Konflikt wirklich zu verstehen, muss man einen Schritt weiter zurückgehen - zur Geschichte des Judentums selbst. Denn Israel ist kein Kolonialprojekt, wie es heute oft fälschlich dargestellt wird, sondern die politische Rückkehr eines uralten Volkes in sein historisches Kernland.
Das Judentum ist eine der ältesten monotheistischen Religionen der Welt und entstand vor über 3000 Jahren in dem Land, das heute Israel und Palästina genannt wird. Die Verbindung des jüdischen Volkes zu diesem Gebiet ist nicht ideologisch hergeleitet, sondern historisch, kulturell, religiös und identitär tief verwurzelt - dokumentiert durch archäologische Funde, antike Schriften und durchgehende Präsenz jüdischer Gemeinschaften selbst in Zeiten der Vertreibung und Diaspora.
Mit der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. begann die lange jüdische Diaspora - eine über Jahrtausende andauernde Geschichte von Flucht, Vertreibung, Ausgrenzung und Verfolgung. Vom Mittelalter über die Inquisition bis hin zu Pogromen im zaristischen Russland: Die Juden Europas und des Nahen Ostens galten fast überall als Fremdkörper, als Sündenböcke für soziale, wirtschaftliche oder politische Krisen. Sie wurden entrechtet, entreichert, ghettoisiert - oft mit tödlichen Konsequenzen.
Der Höhepunkt dieser Verfolgung war die Shoah: die systematische Ermordung von sechs Millionen Juden im nationalsozialistischen Deutschland. Sie machte endgültig deutlich, dass die Juden weltweit keinen sicheren Ort hatten. Aus dieser existenziellen Erkenntnis entstand nicht nur eine moralische, sondern auch eine politische Konsequenz: Die Notwendigkeit eines jüdischen Staates - nicht als Expansion, sondern als Schutzraum. Die Gründung Israels im Jahr 1948 war daher keine ,,Kolonisierung", sondern die Wiederherstellung jüdischer Selbstbestimmung nach Jahrhunderten der Machtlosigkeit.
Es ist bemerkenswert - und tragisch -, dass diese historische Dimension heute in vielen Debatten komplett ausgeblendet wird. Dabei ist das Existenzrecht Israels nicht verhandelbar, weil es nicht auf imperialer Eroberung beruht, sondern auf der jahrtausendealten Verbindung eines Volkes zu seinem Ursprungsland und auf der bitter erlebten Einsicht, dass ohne einen eigenen Staat jüdisches Leben immer gefährdet bleibt. Israel ist nicht nur ein geografischer Ort - es ist das historische, kulturelle und existenzielle Zentrum des jüdischen Volkes.
Tragischerweise wurden die Palästinenser selbst in diesen Konflikt verwickelt, ohne jemals echte politische Autonomie zu erlangen. Wie viele andere Völker der Region waren sie wiederholt Spielball externer Interessen: Zunächst der Kolonialmächte, später der umliegenden arabischen Staaten, schließlich der Großmächte im Kalten Krieg. Ob Ägypten, Syrien oder Jordanien - selten wurde ernsthaft versucht, einen palästinensischen Staat aufzubauen. Stattdessen nutzten diese Staaten den Palästinakonflikt zur Legitimation ihrer eigenen Herrschaft oder zur Schwächung Israels. Die Folge war eine dauerhafte Instrumentalisierung der palästinensischen Bevölkerung - ideologisch, militärisch und wirtschaftlich. Die Palästinenser wurden mit Versprechungen gelockt, in politische Abenteuer gezogen - und am Ende regelmäßig im Stich gelassen.
In den letzten Jahren hat sich ein neues, besorgniserregendes Phänomen entwickelt: Die zunehmende Solidarität vieler junger Menschen weltweit mit radikalen palästinensischen Gruppierungen - allen voran der Hamas. Diese Unterstützung speist sich selten aus einer vertieften Kenntnis des Konflikts, sondern vielmehr aus moralischer Vereinfachung. In sozialen Medien wird der Nahostkonflikt oft als einfache Geschichte erzählt: Israel als unterdrückender ,,Kolonialstaat", die Palästinenser als wehrlose Opfer. Diese Emotionalisierung wird verstärkt durch Identitätspolitik, in der Israel fälschlich als ,,weißer, westlicher Unterdrücker" und Palästina als Symbol aller ,,People of Color" dargestellt wird. Solche Narrative sind attraktiv, weil sie einfach sind - aber sie blenden die komplexen historischen, religiösen und geopolitischen Realitäten völlig aus.
Hinzu kommt ein alarmierender Anstieg antisemitischer Tropen, die im Windschatten dieser Entwicklungen wieder gesellschaftsfähig geworden sind. Antisemitismus zeigt sich dabei längst nicht mehr nur im rechtsextremen Lager, sondern ebenso in linken, islamistischen oder akademischen Kreisen. Die alten Vorurteile - etwa dass ,,die Juden" Medien, Banken oder die Weltpolitik kontrollieren - erscheinen heute in neuer Verpackung: unter dem Deckmantel von ,,Israelkritik" oder Antizionismus. Israel wird dämonisiert, mit den Nazis verglichen oder als ,,Apartheidstaat" gebrandmarkt - oft ohne jede Differenzierung. Wenn Israel jedoch nach anderen Maßstäben beurteilt wird als jeder andere Staat, wenn sein Existenzrecht infrage gestellt oder seine Bürger kollektiv verurteilt werden, wird Kritik zur Chiffre für Judenhass.
Dass dieser Hass heute wieder so fanatisch und undifferenziert auftritt, hat viele Ursachen: fehlende Bildung, emotionale Radikalisierung durch Social Media, unaufgearbeitete familiäre Erzählungen und das Bedürfnis nach klaren Feindbildern in einer immer komplexer werdenden Welt. In vielen Fällen wird der Antisemitismus nicht einmal als solcher erkannt, weil er sich nicht offen, sondern als ,,Solidarität mit Palästina" oder ,,Kampf gegen Unterdrückung" tarnt.
All dies macht deutlich: Wer heute über Palästina, Israel oder den Nahostkonflikt spricht, muss sich der historischen Tiefen bewusst sein - und sich der Verantwortung stellen, mit Sprache und Haltung nicht weiter Öl ins Feuer zu gießen. Eine Lösung dieses jahrzehntelangen Konflikts wird nur möglich sein, wenn beide Seiten anerkannt und gehört werden. Dazu gehört, dass die palästinensische Bevölkerung endlich die Möglichkeit bekommt, sich von radikalen Gruppen wie der Hamas zu emanzipieren, demokratische Strukturen aufzubauen und ein Leben in Würde zu führen - ohne dass ihr Dasein weiterhin als Waffe gegen Israel benutzt wird. Und es bedeutet, dass Israel seine Sicherheitsbedürfnisse mit politischer Weitsicht verbindet, Kompromisse dort möglich macht, wo sie sicherheitsverträglich sind, und der Versuchung widersteht, durch expansive Siedlungspolitik neue Spannungen zu erzeugen.
Die internationale Gemeinschaft muss ebenfalls Verantwortung übernehmen - nicht durch symbolische Gesten oder einseitige Schuldzuweisungen, sondern durch Bildung, Vermittlung und echten Dialog. Es braucht ein neues Nachdenken über Friedensprozesse, das nicht auf alten Mustern beruht, sondern auf Realitätssinn und Menschlichkeit. Nur wenn beide Seiten anerkannt werden - in ihrer Geschichte, ihren Traumata, ihren Ängsten und ihrem Recht auf Zukunft - kann dieser Konflikt eines Tages überwunden werden.
20.08.25
©Serdar Somuncu
Das neue Buch - Lügen -Kulturgeschichte einer menschlichen Schwäche"
*Serdar Somuncu ist Schauspieler und Regisseur
HIER GEHTS ZUM NEUEN BUCH
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Dass ,,Palästina" heute dennoch als nationaler Begriff verwendet wird, ist vor allem eine Folge politischer Narrative, die nach der Gründung Israels 1948 an Kraft gewannen. Dabei geht es weniger um die historische Realität als vielmehr um ein ideologisches Konstrukt, das von verschiedenen Akteuren gezielt eingesetzt wurde, um das Existenzrecht Israels zu delegitimieren. Der fiktive Rückbezug auf einen nie existenten palästinensischen Staat dient oft nicht der Lösung des Konflikts, sondern dessen Verhärtung.
Doch um diesen Konflikt wirklich zu verstehen, muss man einen Schritt weiter zurückgehen - zur Geschichte des Judentums selbst. Denn Israel ist kein Kolonialprojekt, wie es heute oft fälschlich dargestellt wird, sondern die politische Rückkehr eines uralten Volkes in sein historisches Kernland.
Das Judentum ist eine der ältesten monotheistischen Religionen der Welt und entstand vor über 3000 Jahren in dem Land, das heute Israel und Palästina genannt wird. Die Verbindung des jüdischen Volkes zu diesem Gebiet ist nicht ideologisch hergeleitet, sondern historisch, kulturell, religiös und identitär tief verwurzelt - dokumentiert durch archäologische Funde, antike Schriften und durchgehende Präsenz jüdischer Gemeinschaften selbst in Zeiten der Vertreibung und Diaspora.
Mit der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. begann die lange jüdische Diaspora - eine über Jahrtausende andauernde Geschichte von Flucht, Vertreibung, Ausgrenzung und Verfolgung. Vom Mittelalter über die Inquisition bis hin zu Pogromen im zaristischen Russland: Die Juden Europas und des Nahen Ostens galten fast überall als Fremdkörper, als Sündenböcke für soziale, wirtschaftliche oder politische Krisen. Sie wurden entrechtet, entreichert, ghettoisiert - oft mit tödlichen Konsequenzen.
Der Höhepunkt dieser Verfolgung war die Shoah: die systematische Ermordung von sechs Millionen Juden im nationalsozialistischen Deutschland. Sie machte endgültig deutlich, dass die Juden weltweit keinen sicheren Ort hatten. Aus dieser existenziellen Erkenntnis entstand nicht nur eine moralische, sondern auch eine politische Konsequenz: Die Notwendigkeit eines jüdischen Staates - nicht als Expansion, sondern als Schutzraum. Die Gründung Israels im Jahr 1948 war daher keine ,,Kolonisierung", sondern die Wiederherstellung jüdischer Selbstbestimmung nach Jahrhunderten der Machtlosigkeit.
Es ist bemerkenswert - und tragisch -, dass diese historische Dimension heute in vielen Debatten komplett ausgeblendet wird. Dabei ist das Existenzrecht Israels nicht verhandelbar, weil es nicht auf imperialer Eroberung beruht, sondern auf der jahrtausendealten Verbindung eines Volkes zu seinem Ursprungsland und auf der bitter erlebten Einsicht, dass ohne einen eigenen Staat jüdisches Leben immer gefährdet bleibt. Israel ist nicht nur ein geografischer Ort - es ist das historische, kulturelle und existenzielle Zentrum des jüdischen Volkes.
Tragischerweise wurden die Palästinenser selbst in diesen Konflikt verwickelt, ohne jemals echte politische Autonomie zu erlangen. Wie viele andere Völker der Region waren sie wiederholt Spielball externer Interessen: Zunächst der Kolonialmächte, später der umliegenden arabischen Staaten, schließlich der Großmächte im Kalten Krieg. Ob Ägypten, Syrien oder Jordanien - selten wurde ernsthaft versucht, einen palästinensischen Staat aufzubauen. Stattdessen nutzten diese Staaten den Palästinakonflikt zur Legitimation ihrer eigenen Herrschaft oder zur Schwächung Israels. Die Folge war eine dauerhafte Instrumentalisierung der palästinensischen Bevölkerung - ideologisch, militärisch und wirtschaftlich. Die Palästinenser wurden mit Versprechungen gelockt, in politische Abenteuer gezogen - und am Ende regelmäßig im Stich gelassen.
In den letzten Jahren hat sich ein neues, besorgniserregendes Phänomen entwickelt: Die zunehmende Solidarität vieler junger Menschen weltweit mit radikalen palästinensischen Gruppierungen - allen voran der Hamas. Diese Unterstützung speist sich selten aus einer vertieften Kenntnis des Konflikts, sondern vielmehr aus moralischer Vereinfachung. In sozialen Medien wird der Nahostkonflikt oft als einfache Geschichte erzählt: Israel als unterdrückender ,,Kolonialstaat", die Palästinenser als wehrlose Opfer. Diese Emotionalisierung wird verstärkt durch Identitätspolitik, in der Israel fälschlich als ,,weißer, westlicher Unterdrücker" und Palästina als Symbol aller ,,People of Color" dargestellt wird. Solche Narrative sind attraktiv, weil sie einfach sind - aber sie blenden die komplexen historischen, religiösen und geopolitischen Realitäten völlig aus.
Hinzu kommt ein alarmierender Anstieg antisemitischer Tropen, die im Windschatten dieser Entwicklungen wieder gesellschaftsfähig geworden sind. Antisemitismus zeigt sich dabei längst nicht mehr nur im rechtsextremen Lager, sondern ebenso in linken, islamistischen oder akademischen Kreisen. Die alten Vorurteile - etwa dass ,,die Juden" Medien, Banken oder die Weltpolitik kontrollieren - erscheinen heute in neuer Verpackung: unter dem Deckmantel von ,,Israelkritik" oder Antizionismus. Israel wird dämonisiert, mit den Nazis verglichen oder als ,,Apartheidstaat" gebrandmarkt - oft ohne jede Differenzierung. Wenn Israel jedoch nach anderen Maßstäben beurteilt wird als jeder andere Staat, wenn sein Existenzrecht infrage gestellt oder seine Bürger kollektiv verurteilt werden, wird Kritik zur Chiffre für Judenhass.
Dass dieser Hass heute wieder so fanatisch und undifferenziert auftritt, hat viele Ursachen: fehlende Bildung, emotionale Radikalisierung durch Social Media, unaufgearbeitete familiäre Erzählungen und das Bedürfnis nach klaren Feindbildern in einer immer komplexer werdenden Welt. In vielen Fällen wird der Antisemitismus nicht einmal als solcher erkannt, weil er sich nicht offen, sondern als ,,Solidarität mit Palästina" oder ,,Kampf gegen Unterdrückung" tarnt.
All dies macht deutlich: Wer heute über Palästina, Israel oder den Nahostkonflikt spricht, muss sich der historischen Tiefen bewusst sein - und sich der Verantwortung stellen, mit Sprache und Haltung nicht weiter Öl ins Feuer zu gießen. Eine Lösung dieses jahrzehntelangen Konflikts wird nur möglich sein, wenn beide Seiten anerkannt und gehört werden. Dazu gehört, dass die palästinensische Bevölkerung endlich die Möglichkeit bekommt, sich von radikalen Gruppen wie der Hamas zu emanzipieren, demokratische Strukturen aufzubauen und ein Leben in Würde zu führen - ohne dass ihr Dasein weiterhin als Waffe gegen Israel benutzt wird. Und es bedeutet, dass Israel seine Sicherheitsbedürfnisse mit politischer Weitsicht verbindet, Kompromisse dort möglich macht, wo sie sicherheitsverträglich sind, und der Versuchung widersteht, durch expansive Siedlungspolitik neue Spannungen zu erzeugen.
Die internationale Gemeinschaft muss ebenfalls Verantwortung übernehmen - nicht durch symbolische Gesten oder einseitige Schuldzuweisungen, sondern durch Bildung, Vermittlung und echten Dialog. Es braucht ein neues Nachdenken über Friedensprozesse, das nicht auf alten Mustern beruht, sondern auf Realitätssinn und Menschlichkeit. Nur wenn beide Seiten anerkannt werden - in ihrer Geschichte, ihren Traumata, ihren Ängsten und ihrem Recht auf Zukunft - kann dieser Konflikt eines Tages überwunden werden.
20.08.25
©Serdar Somuncu
Das neue Buch - Lügen -Kulturgeschichte einer menschlichen Schwäche"
*Serdar Somuncu ist Schauspieler und Regisseur
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1. Die palästinensische Identität ist heute Realität, und zwar völlig unabhängig davon, seit wann sie existiert. Sie ist von anderen arabischen Identitäten unterscheidbar, wie etwa durch Sprache, Kleidung, Kunst und gemeinsames historisches Bewusstsein.
2. Das Existenzrecht des Nationalstaates Israel kann und darf nicht auf biblische Zeiten zurückgeführt werden. Der Rückgriff auf die Antike überspringt nicht nur die lange Geschichte und die tiefe Verwurzelung anderer Gruppen, sondern ist völkerrechtlich unhaltbar. Theoretisch könnte jedes heutige Volk Anspruch auf (mehr) Lebensraum erheben, wenn es entsprechende historische Wurzeln hat.
Politische Legitimität basiert auf aktuellen Realitäten und auf dem Völkerrecht, nicht auf "vor dreitausend Jahren war das mal unser Land, Gott hat es uns versprochen, also gehört es uns auch heute noch". Damit sei aber nicht gesagt, dass der Staat Israel kein Existenzrecht hat, ganz im Gegenteil. Seine Existenz ist eine Realität, die durch die Staatengemeinschaft anerkannt wird. Ob bei der Gründung Unrecht geschehen ist, kann eine Rolle in Bezug auf mögliche Entschädigungen spielen, ist aber unerheblich in Bezug auf das Existenzrecht.
3. Die Komplexität der Geschichte relativiert nicht den Völkermord in Gaza. Wenn man das, was Israel vor den Augen der ganzen Welt verübt, als das bezeichnet, was es ist, wird man bestenfalls als Opfer der Hamas-Propaganda bezeichnet, schlimmstenfalls als Antisemit. Ein so sensibles und ernstes Thema darf jedoch nicht vom Tisch gewischt werden mit Scheinargumenten, die man auch bei anderen Genoziden kennt. Nehmen wir den Völkermord an Herero und Nama: Hier wurde ein Aufstand mit Massakern an mehreren hundert deutschen Siedlern und Soldaten als Anlass für die totale Vernichtung der aufständischen Gruppen genommen. Jene, die bedingungslos an der Seite Israels stehen, werden jetzt einwenden, dass Israel sich bloß verteidigt, gar keine Vernichtungsabsicht hat und alles Mögliche tut, um unschuldiges palästinensisches Leben in Gaza zu schonen, doch sie seien an dieser Stelle daran erinnert, dass die Türkei den armenischen Völkermord bis heute mit ähnlichen Begründungen rechtfertigt und leugnet. Der renommierte israelische Professor für Völkermordforschung Daniel Blatman hat erst kürzlich einen Artikel zu den Parallelen veröffentlicht. Selbst Jude, dürfte er wohl frei sein vom Antisemitismusverdacht. Man könnte ihm höchstens Naivität vorwerfen, doch wir haben es hier mit einem Menschen zu tun, der sein ganzes Leben der Erforschung von Genoziden gewidmet hat. Sollten nicht gerade wir in Deutschland besonders sensibel reagieren und hellhörig werden, wenn so ein renommierter Wissenschaftler, der selbst israelischer Jude ist, seinem eigenen Staat Genozid vorwirft? Was ist mit all den anderen exzellenten israelischen Völkermordforschern, wie etwa Amos Goldberg, Omer Bartov, Shmuel Lederman oder Eyal Mayroz, die gleichermaßen von einem Genozid oder zumindest von einem genozidalen Krieg in Gaza sprechen? Wieso ist die erste Reaktion, sie in die linksversiffte Hamas-Propaganda-Opfer-Schublade zu stecken, sodass man ihnen gar nicht zuhören muss? Was ist mit westlichen und jüdischen Ärzten vor Ort, wie etwa Mark Perlmutter, Tom Potokar, Nizam Mamode, Graeme Groom, Nick Maynard, Guy Shalev, Tom Adamkiewicz usw., die von unvorstellbaren Grausamkeiten seitens der IDF berichten?
Ich frage mich ernsthaft, Herr Somuncu, wieso Sie beim Ukraine-Konflikt stets für eine differenzierte Haltung plädiert haben, doch im Hinblick auf Israel kein Wort dazu verlieren, dass Netanjahu über Jahre hinweg die Hamas mitfinanziert hat, um einen palästinensischen Staat zu verunmöglichen? Wieso kommt von Ihnen nicht auch die leiseste Kritik an eine Regierung, die voller Faschisten ist? Warum verurteilen Sie es nicht scharf, dass Israel keine unabhängigen Journalisten in den Gazastreifen lässt, um den Propagandakrieg auf einen Schlag zu gewinnen und der ganzen Welt zu beweisen, dass wir es mit der IDF tatsächlich mit der moralischsten Armee der Welt zu tun haben? Haben Sie jemals von "Lavender AI" und "Where's Daddy?" gehört und wenn ja, wie kann Sie das als Mensch völlig kalt lassen?
Dass die Hamas eine terroristische und brutale Widerstandsorganisation ist, steht überhaupt nicht zur Debatte. Wenn aber ein Staat zur Selbstverteidigung die Lebensbedingungen eines ganzen Volkes zerstört, Hunger als Waffe einsetzt und ohne jede Rücksicht auf Zivilisten mordet, dann sind nicht diejenigen schuld, die das Ganze initiiert haben, sondern der Staat, der diese Verbrechen verübt. "Wir quälen die Zivilisten in Gaza, um die Hamas in die Knie zu zwingen, doch leider interessiert sich die Hamas nicht für die Menschen, die wir systematisch leiden lassen. Ergo ist Hamas schuld". Ernsthaft, Herr Somuncu? Sie kaufen wirklich diese Art der genozidalen Rhetorik ab?
Dass ich mir überhaupt die Zeit nehme, so einen langen Text zu verfassen, liegt daran, dass ich menschlich sehr enttäuscht bin. Meine Meinung kann Ihnen freilich am Arsch vorbeigehen, doch für mich waren Sie ein Vorbild, das ich immer sehr bewundert habe. Dass Sie rechtsextreme und dehumanisierende Ansichten aus israelischen Reihen übernommen haben, hat mich zutiefst erschüttert. Haben Sie sich mal die Aufnahmen von zerfetzten und toten Kindern aus Gaza angesehen? Wenn ja, sind Sie wirklich so herzlos, dass Sie meinen, es sei nur emotionale Überreaktion, wenn man regelrecht traumatisiert wird von dem, was man da so sieht, vor allem im Hinblick auf die Dehumanisierung dieser unschuldigen Menschen, mit der man ständig konfrontiert wird? Wenn nein, nehmen Sie sich die drei Minuten und schauen Sie sich dieses Video an, das ich erstellt und mit dem "Free Palestine"-Track von Haftbefehl unterlegt habe. Verschließen Sie nicht die Augen und sehen Sie hin:
https://youtu.be/s8Tdx26j0ic
Das sind nur einige wenige Aufnahmen von unzähligen, die ich mir angeschaut habe. Die Aufnahmen vom 7. Oktober waren verstörend genug, die Aufnahmen aus Gaza, insbesondere die von leidenden Kindern, haben mich in meinem Wesen verändert. Ich hätte es mir niemals ausmalen können, dass Menschen um mich herum solch ein Leid trotz der Sichtbarkeit rechtfertigen würden. Tragisch, aber notwendig, heißt es. Nur die Hamas sei schuld, da sie weder die Geiseln freilassen noch die Waffen niederlegen wolle. Selbst Angehörige der Geiseln und ehemalige Shin-Bet- bzw. Mossad-Chefs weisen diese Narrative inzwischen zurück, doch bei uns wird sie weiterhin verbreitet. Ich bin so schockiert, dass ich inzwischen jegliche Lebenslust verloren habe. Ich kann diese Banalität des Bösen kaum mehr ertragen. Ich kann und werde niemals akzeptieren, dass manche Menschen mehr wert sind als andere, nur weil sie auf der falschen Seite auf die Welt gekommen sind. Dass man sie zerbomben und zerstückeln darf, um anderes, wertvolleres Leben zu retten. Niemals.