Was Deutschland braucht
Nächstes Jahr steht eine Bundestagswahl an, die in Zeiten der Krise düstere Implikationen mit sich trägt. Die Demagogen wetzen ihre Messer, die etablierten Parteien baden im Saft der eigenen Moral, das Klima wird rauer, es ist ernst. Wir stehen nun an einem entscheidenden Punkt, die Zukunft unseres Landes zu bestimmen. Doch was braucht Deutschland?
Von Bent Erik Scholz
Von Bent Erik Scholz
Deutschland hatte es nicht leicht in den letzten hundert Jahren. 1924 war die Hyperinflation gerade überwunden, nur neun Jahre später ging die Weimarer Republik in einen diktatorischen Terrorstaat auf, der neuerlich Krieg und Elend über die Welt brachte, und Millionen Tote forderte. Nach Ende des Weltkriegs war Deutschland ein Schutthaufen, die meisten größeren Städte waren zerbombt, die Ruder lagen nun in den Händen der bis vor kurzem noch feindlichen Regime. Darauf folgte eine lange Zeit der Teilung unter Ägide der Siegermächte, in der sich zwei in Teilen gleiche, doch weitestgehend hochgradig unterschiedliche Kulturen herausbildeten - eine kapitalistisch-demokratische und eine sozialistisch-diktatorische. Beide Länder entwickelten völlig unterschiedliche Haltungen gegenüber ihren Institutionen, den Abläufen in der Weltgeschichte, aber auch gegenübereinander. Das geteilte Deutschland steht exemplarisch für den stillen Großmachtkonflikt, den Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und den NATO-Ländern, der immer wieder zu kippen drohte. Man stelle sich vor, die Kuba-Krise hätte tatsächlich zu einem neuerlichen direkten Krieg zwischen den Sowjets und den USA geführt. Hätten dann deutsche Soldaten andere deutsche Soldaten bekämpft?
Die sogenannte Wiedervereinigung, ein schönes Theorem, erwies sich jedoch praktisch als das Überstülpen einer Kultur auf eine völlig anders entwickelte Zivilisation. Mit den neuen Freiheiten kamen die Risiken, mit der starken Hand des Staates wich die Sicherheit. Die Treuhand riss viele Wunden auf, Abschlüsse waren nicht mehr gültig, gleichzeitig wurde das Leben bunter, bildreicher, freizügiger. Zwei Zivilisationen knallten aufeinander, teilweise verschmolzen sie, doch so wirklich grün wurden sie sich bis heute nicht. Das Ende der Geschichte, hieß es, sei erreicht, der demokratische Kapitalismus habe obsiegt. Es begann eine Zeit der Sorglosigkeit, die die Neunziger durchzog, den Jahrtausendwechsel begleitete, und am 11. September 2001 - knapp zwei Wochen nach meiner Geburt - endete.
Die Weltlage verkomplizierte sich. Doch dort, wo es kein klar zu definierendes Gut und Böse mehr gab, wurde dieses bis vor kurzem noch geteilte Volk angezählt, sich zu positionieren. Alte Großmachtkonflikte brachen neu auf, und die Bedrohungen wurden umfangreicher: nebst der brutalen Klarheit der kriegerischen Auseinandersetzungen überall um uns herum, deren Teil wir direkt oder indirekt sind, kamen diffuse Bedrohungen durch Krankheiten oder Flüchtlingsströme, rapide Normenveränderungen und technische Entwicklungen hinzu, deren Potenzial wir ebenso schlecht einschätzen konnten wie ihre Risiken. Als Jack Dorsey 2006 Twitter ins Leben rief, hätte er sich selbst wahrscheinlich nie ausgemalt, dass seine Plattform alsbald selbst als Schlachtfeld fungieren würde. Was als Kurznachrichten begann, ist heute ein Hurrikan an Beschimpfungen, Liveberichterstattung, Doxxing, Kriegsbildern, Investigativjournalismus, Holocaust-Verharmlosungen, liberal-elitärem Tone-Policing, Extremismus, wissenschaftlichen Abhandlungen, Fake News, Aphorismen, und Pornographie.
Das, woran wir bisher geglaubt haben, steht infrage. Aus drei Fernsehkanälen, die das berichteten, was offenbar der Sachstand war, wurde ein verzahntes System aus unterschiedlichen Medien, die jeweils ihre eigenen politischen Werte und wirtschaftlichen Interessen mitbringen, und Einzelpersonen oder anonymen Kollektiven, die sich teilweise gar ähnlich lautstark oder prominent platzieren, aber ebenso interessengeleitet sind. Kontrollieren lässt sich dieser Sturm kaum - denn jeder Versuch eines staatlichen Regulativs beinhaltet die Gefahr des Missbrauchs zur Abschaltung abweichender Haltungen, wenn nicht von dieser, dann doch womöglich von einer anderen Regierung.
Unsere Kommunikationswege unterliegen dem Diktat sehr reicher Privatleute, die mit dieser enormen Verantwortung nicht selten schädlich umgehen - indem sie entweder den Präsidenten der Vereinigten Staaten stummschalten oder willkürlich bestimmen, was als Diskriminierung zu verstehen ist: antisemitische Verschwörungstheorien oder das N-Wort bleiben stehen, ,,Cis-Mann" führt zur Sperrung des Accounts. Die Idee eines öffentlich-rechtlichen Sozialen Netzwerks kursiert seit längerem, doch fehlt es gleichsam an technischem Know-how und an dem Vertrauen der Bevölkerung, dass dort besser mit der Meinungs- und Medienfreiheit umgegangen würde. Solange sind wir einer Bilder- und Wutflut ausgesetzt, algorithmisch zum Zwecke der Gewinnmaximierung genau darauf ausgelegt, uns bei der Stange zu halten und zum Mitposten anzuregen - Traffic erzeugt Werbeeinnahmen auch unabhängig von seiner inhaltlichen Qualität, oder gar Richtigkeit.
An der Leine dieser Mechanismen, die uns mit medialem Fast Food und digitalen Aufputschmitteln versorgen, graben wir uns immer tiefer in unsere jeweils eigenen Gräben, die je nach Bedarf auch zu Schützengräben werden können. Sie stillen unsere Triebe, und geben uns ein verlogenes Gefühl von Gemeinschaft, wenn sie uns mit der Bestätigung scheinbar Gleichgesinnter sedieren und uns zeitgleich einen scheinbar gemeinsamen Feind vorsetzen. Die Schlachten führen wir mit Bildern und Schriftzeichen. Nur manchmal bluten sie bis in die Realität, dafür jedoch umso heftiger. Zwei Nachbarn, die sich streiten, können sich halbwegs aus dem Weg gehen. Wird jedoch ein internationales Publikum Zeuge einer Auseinandersetzung, wiegt dies deutlich schwerer. Regelmäßig werden Veranstaltungen von öffentlichen Personen, die in Ungnade gefallen sind, aufgrund von Morddrohungen abgesagt. Wer sich einer Person mit einer Plattform gegenüber allzu unliebsam geriert, kann Gefahr laufen, bald seine eigene Adresse oder Telefonnummer im Internet zu lesen.
Während also die globalen Gefüge immer verzahnter werden, wird der Mensch an sich primitiver. 60% der Leser werden nie bis zu dieser Stelle dieses Blogeintrags kommen. Ein Großteil derer, die ihn jetzt noch lesen, tun dies, um sich bestätigen zu lassen. Jene, die mir von Anfang an widersprochen haben, wird es ihre kostbare Zeit nicht wert sein, werden sich für meine Argumente nicht interessieren. Die mentale Schublade, in der dieser Text für jeden einzelnen Leser landet, wird bei einem Großteil längst geschlossen sein. Und so bin ich für den einen authentisch und reflektiert, für den nächsten ein geschwollener Dummschwätzer - für die einen ein Russlandfreund und Verschwörungstheoretiker, für die anderen ein linker Gutmensch und Systemling. All diese unterschiedlichen Attribute wurden mir angehängt, auf Basis einer einzelnen Podcastfolge.
Was daraus offensichtlich wird: wir stecken bis zum Hals in einer kollektiven Identitätskrise. Denn wer andere anhand oberflächlicher Wahrnehmung kategorisiert, kann auch sich selbst nicht davor bewahren, die eigene Peer Group durch Gesten der Selbstbehauptung zu finden und zu behalten. Wer im Gegenüber nur den Vertreter eines Meinungslagers sieht, kann auch sein eigenes Selbstbild nur durch die Bestätigung anderer definieren - und so sucht er diese Bestätigung der anderen, indem er die gleichen Formulierungen benutzt, den gleichen Accounts folgt, sich die gleichen Flaggen-Symbole ins Profilbild setzt.
Wir suchen nicht mehr nach dem, was uns ausmacht - sondern nach dem, was uns schmückt. Wann gab es zuletzt eine klar zu definierende Jugendkultur, die politisch unabhängig und gleichzeitig mehr als nur ein Modetrend war? Punk ist tot, Gothic und Metal stagnieren, Hip Hop ist im Mainstream angekommen. Die Ärzte schreiben ein Lied, in dem sie die Hörerschaft zum Wählen auffordern, Eminem tritt an der Seite von Barack Obama bei einer Wahlkampfveranstaltung der Demokraten auf. Die Insignien der Szene sind heute modische Accessoires und Ausweise des Hedonismus, nicht selten gekapert von Luxusmarken oder gebrandet als Antreiber der Wertsteigerung. Die LGBTQ-Szene kapitalisiert und stilisiert heute die notgedrungene sexuelle Offenheit und Anonymität aus der Zeit ihrer Ächtung und Illegalität. Nahezu alle Subkulturen der westlichen Welt sind gentrifiziert, sie sind heute ein teures Hobby, das sich die gut Situierten leisten, um sich interessant zu machen.
Heute definieren wir uns über Zahlen. Über die Zahlen auf unserem Konto, die Zahlen auf der Waage, die Zahl unserer Follower, unserer Sexualpartner, die Preisschilder an unserer Kleidung. Wir definieren unseren Marktwert, und um ihn zu steigern, quälen wir uns in der stillen Hoffnung, das uns der Aufstieg gelingt. Wir arbeiten für ein kleines Stück vom Kuchen der Großkonzerne, deren Namen auf unseren Wohlstandsinsignien prankt. Wir buhlen um die Gunst derer, in deren Schatten wir uns sonnen wollen. Menschen, die sich nicht für uns interessieren, animieren uns dazu, uns emotional einzumauern, damit wir uns vor Menschen schützen, die vielleicht nie eine Gefahr gewesen wären. Wir machen uns abhängig von Entitäten, die uns als Mittel zum Zweck betrachten, die glauben, Produktivität steige nicht durch Effizienz, sondern durch Verlängerung von Arbeitszeiten. Sie glauben, grenzenloses Wachstum sei ein Ideal, und dieses Ideal wäre möglich auch ohne Innovation.
Dazu verleugnen und verschleißen wir uns selbst, werden schwach und stumpf. Wir stopfen uns voll mit Billigfraß von milliardenschweren Franchise-Unternehmen. Wir vernachlässigen unser Sozialleben, degradieren Mitmenschen zum Zeitvertreib, kommunizieren mit ihnen aus purem Selbstzweck, verlernen Empathie, bis wir selbst daran zerbrechen. Die Gesellschaft wird immer kränker, und Gesundheit wird zum Luxusgut. Doch das System liefert uns genug Medikamente, Betäubungsmittel und Stimulanzien. Der Krankenstand ist so hoch wie nie, ebenso wie der Kokaingehalt im Abwasser, und auch der Pro-Kopf-Verbrauch von Alkohol steigt. Wir züchten uns ein Land der Einsamen, Sprachlosen und Drogenabhängigen.
Wohin das auf Dauer führt, zeigen uns die USA mit der Opiumkrise und den beängstigend hohen Todeszahlen durch Fentanyl. Mit steigendem Gewöhnungseffekt wird der Eskapismus existenziell. In deutschen Technoclubs fallen schon heute regelmäßig Menschen in Ohnmacht, weil sie KO-Tropfen konsumieren. Sie betäuben sich, weil sie der Welt und den Leuten um sich herum sonst nicht in die Augen schauen können.
Wie entkommen wir den Spiralen, zu denen uns die Welt, in der wir leben, verführt? Haben wir noch eine Chance, den Mechanismen zu entkommen, die Selbstüberschätzung, Gier und Raubbau am eigenen Körper und Geist belohnen? Oder sind sie zu tief in unseren Köpfen verankert? Der Sozialdarwinismus, die Illusion des entgrenzten Wachstums in einer begrenzten Welt? Sind wir Raubtiere im Sinne dessen, dass wir für unser eigenes Wohl das Leid anderer weiterhin in Kauf nehmen wollen? Oder können wir uns auf unsere Herdentriebe besinnen, die uns lehren, dass jede Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied? Können wir an unsere Vernunft und Fähigkeit zur Zurückhaltung appellieren, wenn wir überzeugt sind, dass es einem höheren Nutzen folgt - nämlich der friedlichen und gleichberechtigten Gemeinschaft der Menschen? Momentan, so scheint es, stehen die Zeichen auf destruktive Expansion einzelner durch Geld und Einfluss Bemächtigter.
1949 gab Deutschland sich ein neues Grundgesetz, und somit gab ein Land sich selbst die Regeln für sein weiteres Vorankommen. Die großen Verfassungen der Geschichte, sei es die amerikanische Unabhängigkeitserklärung oder die französische Erklärung der Menschenrechte, sind Triumphe der Menschlichkeit gerade deshalb, dass sie nicht dem oft falsch zitierten Naturgesetz vom ,,Recht des Stärkeren" folgen. Der Sinn von Grundrechten ist, jedem Menschen einzuräumen, was ihm nicht genommen werden kann, auch wenn er selbst nicht über die Mittel verfügt, es zu verteidigen. Würde, Rede- und Meinungsfreiheit, Freizügigkeit - diese Rechte sind unveräußerlich auch für die Ärmsten der Armen, so zumindest die Theorie. Das System, in welchem wir leben, haben wir uns selbst gegeben. Das Parlament ist genauso wenig vom Himmel gefallen wie die Deutsche Bank oder die Lufthansa. Judikative und Exekutive sind Kinder des zutiefst menschlichen Ansatzes, dass jeder, dem Unrecht passiert, verdient, dass er sich dagegen zur Wehr setzen darf. Der Staat existiert in allererster Linie für den Zweck, seine Bürger zu schützen - vor Bedrohungen von außen, aber auch vor der Willkür des Marktes.
Doch dieser Schutz gerät ins Wanken, denn wo Macht ist, sind auch Interessen. Und so ist auch der Staat, so souverän er in seiner Idee sein sollte, abhängig von reichen Privatiers, um Infrastruktur, Wohnraum oder Kommunikationswege zu schaffen. Etwa eine halbe Million Menschen sind in Deutschland derzeit obdachlos. In der Leipziger Straße in Berlin reihen sich leerstehende Bürogebäude aneinander. Durch die hohen Strompreise infolge des Lieferstopps von Gas sind viele Produkte des alltäglichen Gebrauchs in den letzten zwei Jahren merklich teurer geworden - und nun, da der Strompreis sich wieder normalisiert hat, werden sie nicht günstiger. Konnte man vor einigen Jahren noch mit einem Vollzeitgehalt relativ auskömmlich leben, steigen heute die Preise und Mieten schneller als die Löhne.
Große Unternehmen versteuern ihre in Deutschland gemachten Gewinne im europäischen Ausland, und der Finanzminister möchte am Bürgergeld sparen. Jeder, der Bürgergeld empfängt, wird ein Lied davon singen können, welche Entmenschlichung damit einhergeht. Der Finanzminister schlug zuletzt vor, ,,Kosten für die Unterkunft zu pauschalisieren". Im Endeffekt heißt das: Wer einen Anspruch auf Sozialhilfe, und somit einen Bedarf, hat, läuft potenziell Gefahr, seine Wohnung zu verlieren, und wird womöglich gezwungen, den Standort zu wechseln. Was ist das für ein Staat, der sich die Armen nicht mehr leisten kann?
Wenn die Regeln, die wir uns selbst gegeben haben, offensichtlich große Defizite aufweisen, dann sind wir dazu angehalten, zum Wohle aller diese Regeln zu ändern. Dieser Prozess ist nicht angenehm, weil er infrage stellt, woran wir jahrzehntelang geglaubt haben, aber er ist nötig, um unsere Sicherheit für die Zukunft zu garantieren. Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Was Deutschland braucht, ist eine Tabula rasa. Die Irrwege, auf die wir geraten sind, sind derart offensichtlich, dass uns die Augenwischerei nicht mehr weiterhilft. Wir müssen das System, und unsere Position innerhalb dieses Systems, neu denken. Dazu wird es nötig sein, etablierte Strukturen auf den Kopf zu stellen. Es verlangt von uns ein Überwinden der eigenen ideologischen Behäbigkeit, auf der Gewinnerseite der Geschichte zu stehen. Denn ein Gesellschaftsmodell lässt sich nicht auf Dauer aufrechterhalten, indem man sich auf den einen Moment in der neueren Geschichte besinnt, in dem es die beste Option war. Es muss sich immer wieder behaupten, und es muss flexibel bleiben.
Die Hoffnung, dass die Mächtigen es schon richten werden, kann dabei getrost aufgegeben werden, schließlich wird ein System nie von denen hinterfragt, die von ihm profitieren. Stattdessen bedarf es einer Realisation der breiten Masse: wir haben uns ein Konstrukt gebaut, welches uns aktiv schadet. Es verletzt unsere Gesundheit, unseren Selbstwert, unser Sozialleben. Es kann nicht weitergehen wie bisher. Der Traum ist aus. Es wird Zeit für eine Inventur. Und es wird Zeit, dass wir den Mut entwickeln, füreinander auch dann einzustehen, wenn uns selbst dadurch ein Defizit entsteht - denn die meisten Defizite, die uns drohen, haben nur dann einen realen Effekt für uns, wenn wir daran glauben.
Deutschland braucht eine Revolution, die nicht mit Fackeln und Mistgabeln auf der Straße ausgetragen wird, sondern durch Ideen und Courage entsteht. Die Verkommenheit unseres Umgangs miteinander, aber auch mit uns selbst, verlangt nach einem neuen Zeitalter der Aufklärung. Die Alternativen sind Krieg oder Siechtum. Wir müssen uns aus der toxischen Beziehung mit der Realität lösen, die wir uns selbst geschaffen haben. Wir müssen uns wieder ermächtigen und die Hoheit über unsere eigenen Geschicke zurückgewinnen, anstatt darauf zu hoffen, dass sich alles von selbst reguliert, weil das ja immer schon so gewesen sei. Die Wahrheit nämlich ist, dass es nie so war. Kein System der Welt hat sich je von selbst gerettet. Wir schulden es uns selbst und unseren Mitmenschen, eine Wende im Denken einzuleiten und unsere Arme für all jene zu öffnen, die bereit sind, sich an diesem Umdenken zu beteiligen. Es liegt an uns. Die Zeit wird knapp.
30.10.24
*Bent-Erik Scholz arbeitet als freier Mitarbeiter für den RBB
Die sogenannte Wiedervereinigung, ein schönes Theorem, erwies sich jedoch praktisch als das Überstülpen einer Kultur auf eine völlig anders entwickelte Zivilisation. Mit den neuen Freiheiten kamen die Risiken, mit der starken Hand des Staates wich die Sicherheit. Die Treuhand riss viele Wunden auf, Abschlüsse waren nicht mehr gültig, gleichzeitig wurde das Leben bunter, bildreicher, freizügiger. Zwei Zivilisationen knallten aufeinander, teilweise verschmolzen sie, doch so wirklich grün wurden sie sich bis heute nicht. Das Ende der Geschichte, hieß es, sei erreicht, der demokratische Kapitalismus habe obsiegt. Es begann eine Zeit der Sorglosigkeit, die die Neunziger durchzog, den Jahrtausendwechsel begleitete, und am 11. September 2001 - knapp zwei Wochen nach meiner Geburt - endete.
Die Weltlage verkomplizierte sich. Doch dort, wo es kein klar zu definierendes Gut und Böse mehr gab, wurde dieses bis vor kurzem noch geteilte Volk angezählt, sich zu positionieren. Alte Großmachtkonflikte brachen neu auf, und die Bedrohungen wurden umfangreicher: nebst der brutalen Klarheit der kriegerischen Auseinandersetzungen überall um uns herum, deren Teil wir direkt oder indirekt sind, kamen diffuse Bedrohungen durch Krankheiten oder Flüchtlingsströme, rapide Normenveränderungen und technische Entwicklungen hinzu, deren Potenzial wir ebenso schlecht einschätzen konnten wie ihre Risiken. Als Jack Dorsey 2006 Twitter ins Leben rief, hätte er sich selbst wahrscheinlich nie ausgemalt, dass seine Plattform alsbald selbst als Schlachtfeld fungieren würde. Was als Kurznachrichten begann, ist heute ein Hurrikan an Beschimpfungen, Liveberichterstattung, Doxxing, Kriegsbildern, Investigativjournalismus, Holocaust-Verharmlosungen, liberal-elitärem Tone-Policing, Extremismus, wissenschaftlichen Abhandlungen, Fake News, Aphorismen, und Pornographie.
Das, woran wir bisher geglaubt haben, steht infrage. Aus drei Fernsehkanälen, die das berichteten, was offenbar der Sachstand war, wurde ein verzahntes System aus unterschiedlichen Medien, die jeweils ihre eigenen politischen Werte und wirtschaftlichen Interessen mitbringen, und Einzelpersonen oder anonymen Kollektiven, die sich teilweise gar ähnlich lautstark oder prominent platzieren, aber ebenso interessengeleitet sind. Kontrollieren lässt sich dieser Sturm kaum - denn jeder Versuch eines staatlichen Regulativs beinhaltet die Gefahr des Missbrauchs zur Abschaltung abweichender Haltungen, wenn nicht von dieser, dann doch womöglich von einer anderen Regierung.
Unsere Kommunikationswege unterliegen dem Diktat sehr reicher Privatleute, die mit dieser enormen Verantwortung nicht selten schädlich umgehen - indem sie entweder den Präsidenten der Vereinigten Staaten stummschalten oder willkürlich bestimmen, was als Diskriminierung zu verstehen ist: antisemitische Verschwörungstheorien oder das N-Wort bleiben stehen, ,,Cis-Mann" führt zur Sperrung des Accounts. Die Idee eines öffentlich-rechtlichen Sozialen Netzwerks kursiert seit längerem, doch fehlt es gleichsam an technischem Know-how und an dem Vertrauen der Bevölkerung, dass dort besser mit der Meinungs- und Medienfreiheit umgegangen würde. Solange sind wir einer Bilder- und Wutflut ausgesetzt, algorithmisch zum Zwecke der Gewinnmaximierung genau darauf ausgelegt, uns bei der Stange zu halten und zum Mitposten anzuregen - Traffic erzeugt Werbeeinnahmen auch unabhängig von seiner inhaltlichen Qualität, oder gar Richtigkeit.
An der Leine dieser Mechanismen, die uns mit medialem Fast Food und digitalen Aufputschmitteln versorgen, graben wir uns immer tiefer in unsere jeweils eigenen Gräben, die je nach Bedarf auch zu Schützengräben werden können. Sie stillen unsere Triebe, und geben uns ein verlogenes Gefühl von Gemeinschaft, wenn sie uns mit der Bestätigung scheinbar Gleichgesinnter sedieren und uns zeitgleich einen scheinbar gemeinsamen Feind vorsetzen. Die Schlachten führen wir mit Bildern und Schriftzeichen. Nur manchmal bluten sie bis in die Realität, dafür jedoch umso heftiger. Zwei Nachbarn, die sich streiten, können sich halbwegs aus dem Weg gehen. Wird jedoch ein internationales Publikum Zeuge einer Auseinandersetzung, wiegt dies deutlich schwerer. Regelmäßig werden Veranstaltungen von öffentlichen Personen, die in Ungnade gefallen sind, aufgrund von Morddrohungen abgesagt. Wer sich einer Person mit einer Plattform gegenüber allzu unliebsam geriert, kann Gefahr laufen, bald seine eigene Adresse oder Telefonnummer im Internet zu lesen.
Während also die globalen Gefüge immer verzahnter werden, wird der Mensch an sich primitiver. 60% der Leser werden nie bis zu dieser Stelle dieses Blogeintrags kommen. Ein Großteil derer, die ihn jetzt noch lesen, tun dies, um sich bestätigen zu lassen. Jene, die mir von Anfang an widersprochen haben, wird es ihre kostbare Zeit nicht wert sein, werden sich für meine Argumente nicht interessieren. Die mentale Schublade, in der dieser Text für jeden einzelnen Leser landet, wird bei einem Großteil längst geschlossen sein. Und so bin ich für den einen authentisch und reflektiert, für den nächsten ein geschwollener Dummschwätzer - für die einen ein Russlandfreund und Verschwörungstheoretiker, für die anderen ein linker Gutmensch und Systemling. All diese unterschiedlichen Attribute wurden mir angehängt, auf Basis einer einzelnen Podcastfolge.
Was daraus offensichtlich wird: wir stecken bis zum Hals in einer kollektiven Identitätskrise. Denn wer andere anhand oberflächlicher Wahrnehmung kategorisiert, kann auch sich selbst nicht davor bewahren, die eigene Peer Group durch Gesten der Selbstbehauptung zu finden und zu behalten. Wer im Gegenüber nur den Vertreter eines Meinungslagers sieht, kann auch sein eigenes Selbstbild nur durch die Bestätigung anderer definieren - und so sucht er diese Bestätigung der anderen, indem er die gleichen Formulierungen benutzt, den gleichen Accounts folgt, sich die gleichen Flaggen-Symbole ins Profilbild setzt.
Wir suchen nicht mehr nach dem, was uns ausmacht - sondern nach dem, was uns schmückt. Wann gab es zuletzt eine klar zu definierende Jugendkultur, die politisch unabhängig und gleichzeitig mehr als nur ein Modetrend war? Punk ist tot, Gothic und Metal stagnieren, Hip Hop ist im Mainstream angekommen. Die Ärzte schreiben ein Lied, in dem sie die Hörerschaft zum Wählen auffordern, Eminem tritt an der Seite von Barack Obama bei einer Wahlkampfveranstaltung der Demokraten auf. Die Insignien der Szene sind heute modische Accessoires und Ausweise des Hedonismus, nicht selten gekapert von Luxusmarken oder gebrandet als Antreiber der Wertsteigerung. Die LGBTQ-Szene kapitalisiert und stilisiert heute die notgedrungene sexuelle Offenheit und Anonymität aus der Zeit ihrer Ächtung und Illegalität. Nahezu alle Subkulturen der westlichen Welt sind gentrifiziert, sie sind heute ein teures Hobby, das sich die gut Situierten leisten, um sich interessant zu machen.
Heute definieren wir uns über Zahlen. Über die Zahlen auf unserem Konto, die Zahlen auf der Waage, die Zahl unserer Follower, unserer Sexualpartner, die Preisschilder an unserer Kleidung. Wir definieren unseren Marktwert, und um ihn zu steigern, quälen wir uns in der stillen Hoffnung, das uns der Aufstieg gelingt. Wir arbeiten für ein kleines Stück vom Kuchen der Großkonzerne, deren Namen auf unseren Wohlstandsinsignien prankt. Wir buhlen um die Gunst derer, in deren Schatten wir uns sonnen wollen. Menschen, die sich nicht für uns interessieren, animieren uns dazu, uns emotional einzumauern, damit wir uns vor Menschen schützen, die vielleicht nie eine Gefahr gewesen wären. Wir machen uns abhängig von Entitäten, die uns als Mittel zum Zweck betrachten, die glauben, Produktivität steige nicht durch Effizienz, sondern durch Verlängerung von Arbeitszeiten. Sie glauben, grenzenloses Wachstum sei ein Ideal, und dieses Ideal wäre möglich auch ohne Innovation.
Dazu verleugnen und verschleißen wir uns selbst, werden schwach und stumpf. Wir stopfen uns voll mit Billigfraß von milliardenschweren Franchise-Unternehmen. Wir vernachlässigen unser Sozialleben, degradieren Mitmenschen zum Zeitvertreib, kommunizieren mit ihnen aus purem Selbstzweck, verlernen Empathie, bis wir selbst daran zerbrechen. Die Gesellschaft wird immer kränker, und Gesundheit wird zum Luxusgut. Doch das System liefert uns genug Medikamente, Betäubungsmittel und Stimulanzien. Der Krankenstand ist so hoch wie nie, ebenso wie der Kokaingehalt im Abwasser, und auch der Pro-Kopf-Verbrauch von Alkohol steigt. Wir züchten uns ein Land der Einsamen, Sprachlosen und Drogenabhängigen.
Wohin das auf Dauer führt, zeigen uns die USA mit der Opiumkrise und den beängstigend hohen Todeszahlen durch Fentanyl. Mit steigendem Gewöhnungseffekt wird der Eskapismus existenziell. In deutschen Technoclubs fallen schon heute regelmäßig Menschen in Ohnmacht, weil sie KO-Tropfen konsumieren. Sie betäuben sich, weil sie der Welt und den Leuten um sich herum sonst nicht in die Augen schauen können.
Wie entkommen wir den Spiralen, zu denen uns die Welt, in der wir leben, verführt? Haben wir noch eine Chance, den Mechanismen zu entkommen, die Selbstüberschätzung, Gier und Raubbau am eigenen Körper und Geist belohnen? Oder sind sie zu tief in unseren Köpfen verankert? Der Sozialdarwinismus, die Illusion des entgrenzten Wachstums in einer begrenzten Welt? Sind wir Raubtiere im Sinne dessen, dass wir für unser eigenes Wohl das Leid anderer weiterhin in Kauf nehmen wollen? Oder können wir uns auf unsere Herdentriebe besinnen, die uns lehren, dass jede Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied? Können wir an unsere Vernunft und Fähigkeit zur Zurückhaltung appellieren, wenn wir überzeugt sind, dass es einem höheren Nutzen folgt - nämlich der friedlichen und gleichberechtigten Gemeinschaft der Menschen? Momentan, so scheint es, stehen die Zeichen auf destruktive Expansion einzelner durch Geld und Einfluss Bemächtigter.
1949 gab Deutschland sich ein neues Grundgesetz, und somit gab ein Land sich selbst die Regeln für sein weiteres Vorankommen. Die großen Verfassungen der Geschichte, sei es die amerikanische Unabhängigkeitserklärung oder die französische Erklärung der Menschenrechte, sind Triumphe der Menschlichkeit gerade deshalb, dass sie nicht dem oft falsch zitierten Naturgesetz vom ,,Recht des Stärkeren" folgen. Der Sinn von Grundrechten ist, jedem Menschen einzuräumen, was ihm nicht genommen werden kann, auch wenn er selbst nicht über die Mittel verfügt, es zu verteidigen. Würde, Rede- und Meinungsfreiheit, Freizügigkeit - diese Rechte sind unveräußerlich auch für die Ärmsten der Armen, so zumindest die Theorie. Das System, in welchem wir leben, haben wir uns selbst gegeben. Das Parlament ist genauso wenig vom Himmel gefallen wie die Deutsche Bank oder die Lufthansa. Judikative und Exekutive sind Kinder des zutiefst menschlichen Ansatzes, dass jeder, dem Unrecht passiert, verdient, dass er sich dagegen zur Wehr setzen darf. Der Staat existiert in allererster Linie für den Zweck, seine Bürger zu schützen - vor Bedrohungen von außen, aber auch vor der Willkür des Marktes.
Doch dieser Schutz gerät ins Wanken, denn wo Macht ist, sind auch Interessen. Und so ist auch der Staat, so souverän er in seiner Idee sein sollte, abhängig von reichen Privatiers, um Infrastruktur, Wohnraum oder Kommunikationswege zu schaffen. Etwa eine halbe Million Menschen sind in Deutschland derzeit obdachlos. In der Leipziger Straße in Berlin reihen sich leerstehende Bürogebäude aneinander. Durch die hohen Strompreise infolge des Lieferstopps von Gas sind viele Produkte des alltäglichen Gebrauchs in den letzten zwei Jahren merklich teurer geworden - und nun, da der Strompreis sich wieder normalisiert hat, werden sie nicht günstiger. Konnte man vor einigen Jahren noch mit einem Vollzeitgehalt relativ auskömmlich leben, steigen heute die Preise und Mieten schneller als die Löhne.
Große Unternehmen versteuern ihre in Deutschland gemachten Gewinne im europäischen Ausland, und der Finanzminister möchte am Bürgergeld sparen. Jeder, der Bürgergeld empfängt, wird ein Lied davon singen können, welche Entmenschlichung damit einhergeht. Der Finanzminister schlug zuletzt vor, ,,Kosten für die Unterkunft zu pauschalisieren". Im Endeffekt heißt das: Wer einen Anspruch auf Sozialhilfe, und somit einen Bedarf, hat, läuft potenziell Gefahr, seine Wohnung zu verlieren, und wird womöglich gezwungen, den Standort zu wechseln. Was ist das für ein Staat, der sich die Armen nicht mehr leisten kann?
Wenn die Regeln, die wir uns selbst gegeben haben, offensichtlich große Defizite aufweisen, dann sind wir dazu angehalten, zum Wohle aller diese Regeln zu ändern. Dieser Prozess ist nicht angenehm, weil er infrage stellt, woran wir jahrzehntelang geglaubt haben, aber er ist nötig, um unsere Sicherheit für die Zukunft zu garantieren. Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Was Deutschland braucht, ist eine Tabula rasa. Die Irrwege, auf die wir geraten sind, sind derart offensichtlich, dass uns die Augenwischerei nicht mehr weiterhilft. Wir müssen das System, und unsere Position innerhalb dieses Systems, neu denken. Dazu wird es nötig sein, etablierte Strukturen auf den Kopf zu stellen. Es verlangt von uns ein Überwinden der eigenen ideologischen Behäbigkeit, auf der Gewinnerseite der Geschichte zu stehen. Denn ein Gesellschaftsmodell lässt sich nicht auf Dauer aufrechterhalten, indem man sich auf den einen Moment in der neueren Geschichte besinnt, in dem es die beste Option war. Es muss sich immer wieder behaupten, und es muss flexibel bleiben.
Die Hoffnung, dass die Mächtigen es schon richten werden, kann dabei getrost aufgegeben werden, schließlich wird ein System nie von denen hinterfragt, die von ihm profitieren. Stattdessen bedarf es einer Realisation der breiten Masse: wir haben uns ein Konstrukt gebaut, welches uns aktiv schadet. Es verletzt unsere Gesundheit, unseren Selbstwert, unser Sozialleben. Es kann nicht weitergehen wie bisher. Der Traum ist aus. Es wird Zeit für eine Inventur. Und es wird Zeit, dass wir den Mut entwickeln, füreinander auch dann einzustehen, wenn uns selbst dadurch ein Defizit entsteht - denn die meisten Defizite, die uns drohen, haben nur dann einen realen Effekt für uns, wenn wir daran glauben.
Deutschland braucht eine Revolution, die nicht mit Fackeln und Mistgabeln auf der Straße ausgetragen wird, sondern durch Ideen und Courage entsteht. Die Verkommenheit unseres Umgangs miteinander, aber auch mit uns selbst, verlangt nach einem neuen Zeitalter der Aufklärung. Die Alternativen sind Krieg oder Siechtum. Wir müssen uns aus der toxischen Beziehung mit der Realität lösen, die wir uns selbst geschaffen haben. Wir müssen uns wieder ermächtigen und die Hoheit über unsere eigenen Geschicke zurückgewinnen, anstatt darauf zu hoffen, dass sich alles von selbst reguliert, weil das ja immer schon so gewesen sei. Die Wahrheit nämlich ist, dass es nie so war. Kein System der Welt hat sich je von selbst gerettet. Wir schulden es uns selbst und unseren Mitmenschen, eine Wende im Denken einzuleiten und unsere Arme für all jene zu öffnen, die bereit sind, sich an diesem Umdenken zu beteiligen. Es liegt an uns. Die Zeit wird knapp.
30.10.24
*Bent-Erik Scholz arbeitet als freier Mitarbeiter für den RBB
Schreibe einen Kommentar
Seite teilen