Palästina first - oder: Die künstlerische Karawane zieht weiter
Es ist wieder soweit: Während in Gaza Bomben fallen und Menschen sterben, ist die deutsche Kulturszene empört - aber nicht etwa über Raketen auf israelische Zivilisten oder über das traurige Schicksal beider Seiten. Nein, empört ist man über Deutschlands Haltung zur israelischen Politik. Schockierend, wie sich die Bundesregierung doch tatsächlich noch traut, Israels Existenzrecht zu verteidigen, als sei man im Jahr 2025 und nicht längst in den erleuchteten Twitter-Jahrhunderten der moralischen Selbstverwirklichung.
von Serdar Somuncu
von Serdar Somuncu
Und so beginnt sie, die Karawane der Berufsbefindlichen, die auf keinem Festival der Empörung fehlen darf: Die Sängerin mit der Unterschriftenpetition, der Theatermacher mit seiner ,,Solidaritätsperformance" in Ruinen-Ästhetik, der Filmemacher mit dem ,,offenen Brief" (immer offen, nie differenziert). Namen wie Hengameh Yaghoobifarah, Seyda Kurt, Elfriede Jelinek im remote-Modus, Carolin Emcke, Georg Diez, die üblichen Galionsfiguren der Betroffenheitsindustrie, sind natürlich mit von der Partie - samt ihrem Tross aus Erklärvideos, Insta-Stories und der ständigen Drohung, notfalls auch wieder eine Lese zu veranstalten.
Wenn schon eine neue Wahrnehmung dessen gefordert wird, was angeblich unsere westlichen Werte ausmacht - also Toleranz, Menschenrechte und der Twitter-Algorithmus -, warum nicht gleich Nägel mit Köpfen machen? Lasst uns doch gleich die nächste Fußball-Weltmeisterschaft an Palästina vergeben! Hat doch in Katar auch hervorragend funktioniert: Menschenrechte? Check. Meinungsfreiheit? Absolut - solange man dieselbe Meinung hat. Und die deutsche Empörungsschwelle hat dort eine wunderbare Elastizität bewiesen: Kaum jemand wollte nicht empört sein, und doch waren alle da, pünktlich zum Anstoß, mit One-Love-Binde und Fairtrade-Wasserflasche.
Wie wäre es diesmal mit der Eröffnung im wiederaufgebauten Khan Younis Stadion powered by Siemens, mit Eröffnungsrede von Roger Waters und Halbzeitshow von der BDS Dance Crew?
Natürlich geht es auch diesmal nicht wirklich um Gaza. Es geht um uns. Um unsere Haltung, unser Standing, unsere Likes. Und die Menschen in Gaza? Die werden sich sicher freuen, wenn B- bis Z-Prominente aus Berlin-Kreuzberg sich in dramatischem Schwarzweiß fotografieren lassen und dazu schreiben: ,,Wir hören euch." Nein, tun sie nicht. Aber sie hören sich selbst - laut, oft, und ununterbrochen.
Apropos: Währenddessen schippert ein Segelschiff über das Mittelmeer - ein Projekt zur Rettung der Moral in Personalunion. An Bord: die Tochter eines gewissen Chemiekonzerns aus Ludwigshafen, der früher bei der Herstellung eines gewissen Gases nicht ganz unbeteiligt war. Aber keine Sorge, dieses Kapitel wurde im ,,Mission Statement" unter ,,Vergangenheit" abgelegt - und das Deck ist jetzt vegan gewachst.
Ob sich jemand Gedanken macht, wie befremdlich solche Signale bei den echten Opfern ankommen? Sicher nicht. Aber darum geht es bei dieser Art von Instant-Engagement schließlich auch nicht.
Und jetzt alle zusammen: ,,Free Palestine!" Und morgen bitte nicht vergessen, beim Bio-Bäcker ein solidarisches Olivenbrot zu kaufen. Mit Kichererbsen aus fairer Betroffenheit.
01.08.25
©Serdar Somuncu
Das neue Buch - Lügen -Kulturgeschichte einer menschlichen Schwäche"
*Serdar Somuncu ist Schauspieler und Regisseur
HIER GEHTS ZUM NEUEN BUCH
TICKET´S ZUR SHOW "ER IST WIEDER DA"
Wenn schon eine neue Wahrnehmung dessen gefordert wird, was angeblich unsere westlichen Werte ausmacht - also Toleranz, Menschenrechte und der Twitter-Algorithmus -, warum nicht gleich Nägel mit Köpfen machen? Lasst uns doch gleich die nächste Fußball-Weltmeisterschaft an Palästina vergeben! Hat doch in Katar auch hervorragend funktioniert: Menschenrechte? Check. Meinungsfreiheit? Absolut - solange man dieselbe Meinung hat. Und die deutsche Empörungsschwelle hat dort eine wunderbare Elastizität bewiesen: Kaum jemand wollte nicht empört sein, und doch waren alle da, pünktlich zum Anstoß, mit One-Love-Binde und Fairtrade-Wasserflasche.
Wie wäre es diesmal mit der Eröffnung im wiederaufgebauten Khan Younis Stadion powered by Siemens, mit Eröffnungsrede von Roger Waters und Halbzeitshow von der BDS Dance Crew?
Natürlich geht es auch diesmal nicht wirklich um Gaza. Es geht um uns. Um unsere Haltung, unser Standing, unsere Likes. Und die Menschen in Gaza? Die werden sich sicher freuen, wenn B- bis Z-Prominente aus Berlin-Kreuzberg sich in dramatischem Schwarzweiß fotografieren lassen und dazu schreiben: ,,Wir hören euch." Nein, tun sie nicht. Aber sie hören sich selbst - laut, oft, und ununterbrochen.
Apropos: Währenddessen schippert ein Segelschiff über das Mittelmeer - ein Projekt zur Rettung der Moral in Personalunion. An Bord: die Tochter eines gewissen Chemiekonzerns aus Ludwigshafen, der früher bei der Herstellung eines gewissen Gases nicht ganz unbeteiligt war. Aber keine Sorge, dieses Kapitel wurde im ,,Mission Statement" unter ,,Vergangenheit" abgelegt - und das Deck ist jetzt vegan gewachst.
Ob sich jemand Gedanken macht, wie befremdlich solche Signale bei den echten Opfern ankommen? Sicher nicht. Aber darum geht es bei dieser Art von Instant-Engagement schließlich auch nicht.
Und jetzt alle zusammen: ,,Free Palestine!" Und morgen bitte nicht vergessen, beim Bio-Bäcker ein solidarisches Olivenbrot zu kaufen. Mit Kichererbsen aus fairer Betroffenheit.
01.08.25
©Serdar Somuncu
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*Serdar Somuncu ist Schauspieler und Regisseur
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Es ist schon ein bisschen komplexer als es Emre dort unten schildert. Mein Kommentar richtet sich an ihn.
Es sind mehr als genügend Nahrungsmittel über Kerem Schalom, ganz im Süden des Gazastreifens, genau im Eck zwischen Israel, Gazastreifen und Ägypten angekommen. Maßgeblich über die COGAT.
Danach liegt es nicht mehr an Israel, sondern als Zwischenschritt ist die UN (WFP, UNRWA) + andere Hilfsorganisationen dafür verantwortlich diese an die GHF weiterleiten müsste. Macht sie aber nicht. Warum? Die Gründe sind bekannt, wie in etwa die Korruption innerhalb der UN (man möchte es selbst liefern wie zuvor, Hamas und UNRWA verdienten sich ja eine goldene Nase daran).
Allein während des Waffenstillstands wurden dort mehr Hilfslieferungen abgefertigt, als im ganzen Krieg vorher zusammen. Ein kurzer historischer Abriss: Während der Blockade von Berlin durch die Sowjets wurden durch die Alliierten 485.000 Tonnen Nahrungsmittel geliefert. Berlin hatte damals nicht unwesentlich weniger Einwohner als der Gazastreifen heute.
Also hat die COGAT in Gaza mehr als das Dreifache (abzüglich Medizin usw.) geliefert. Trotzdem gibt es Hunger in Gaza. Warum? Das hat die eben genannten Gründe als Ursache, aber eben auch: Hamas, Klassengesellschaften in Gaza usw. usw..
Und wieder ein Vergleich: laut der Gaza Gesundheitsbehörde sind 115 Todesfälle durch Mangelernährung zu verzeichnen seit dem 7. Oktober 2023.
Nur für das Jahr 2025
- In Äthiopien gab es nur in 2025 bislang 74.583 Todesfälle im Zusammenhang mit Mangelernährung.
-In Bangladesch ca. 95.000
- In Angola ca. 34.000
- Auch im Yemen mehrere zehntausende Hungertote allein für 2025. Auch Araber. Nicht unwesentlich weit vom Gaza Streifen entfernt.
In Verhältnissen auch zur Bevölkerungszahl in Gaza teils 20–30 mal mehr im prozentualen Verhältnis.
Mir ist unangenehm solche Opferpyramiden aufzumachen aber angesichts der Dämonisierung Israels muss man solche "whatabouthism" heranziehen.
In Gaza herrscht eine Hungerkrise. Keine Hungersnot (dafür gibt es weit größere Hürden). Und die Gründe sind nicht nur Israel. Man sollte mit solchen Worten, wie auch "Genozid" sehr vorsichtig sein. Dennoch sollte auch die israelische Regierung in Verantwortung genommen werden das Leid der Menschen in Gaza zu reduzieren.
Kritik an Israel ist nicht gleich Antisemitismus, so wie Kritik an Deutschland nicht gleich Deutschfeindlichkeit ist. Wer ernsthaft für Menschenrechte eintritt, muss bereit sein, Verletzungen dieser Rechte überall zu benennen – auch dann, wenn es politisch unbequem ist. Eine Haltung, die nur Likes und Selbstvergewisserung sucht, ist sicherlich heuchlerisch. Aber ebenso heuchlerisch wäre es, Verbrechen oder menschenrechtswidrige Praktiken zu übersehen, nur weil sie von einem „befreundeten“ Staat begangen werden.
Am Ende ist das zentrale Problem nicht die Empörungskultur, sondern das reale Leid der Menschen. Und das sollte auch der Maßstab sein, an dem jede Haltung – ob von Künstlern, Politikern oder Kommentatoren – gemessen wird.