90 % Scholz

90 % Scholz

90 % der Ziele seiner Regierung seien erreicht sagt der Kanzler. Warum hat er bloß nicht 100 % gesagt?

von Alexander Kira
An einigen Kleinigkeiten merkt man, dass unser Bundeskanzler nicht im Osten der Republik sozialisiert ist wie seine Vorgängerin. So lässt er aktuell verbreiten, dass 90 % der Ziele seiner Koalition erreicht seien. So ein Fauxpas wäre seiner Vorgängerin und auch den übrigen Vorgängerregierungen in Berlin, Hauptstadt der DDR, niemals passiert. Hier wäre das Plansoll mindestens zu 100 %, eher aber zu 190 % erfüllt worden. Warum? 100 % Plansoll haben etwas von Mut. Ihnen wohnen die Stärke und Coolness inne, etwas zu behaupten, was so nicht stimmen kann. Wer dahingegen mit 90 % oder gar 98 % operiert, der macht sich angreifbar und verdächtig: Warum, Genosse, dann nicht 100 %? Bitte Belege! Kleinliche Fragen bis hin zur genauen Spesenabrechnung und Devisenkonten folgen. Unangenehm. Es liegt der Verdacht des kleinen Schwindels im Raum, der den großen Schwindel glaubwürdiger erscheinen lassen soll. Bei 100 % fragt niemand nach. Denn dass dies unmöglich ist, ist klar - doch der Mut einer solchen Brigade, sich nicht vom Soll unterzukriegen zu lassen, verbietet jegliches Hinterfragen. Aus solch einem Stoff sind Helden gemacht. Und wer wird schon ernsthaft Helden nach einem Bewirtungsbeleg fragen?
Nicht umsonst kam es erst zum Untergang der DDR, als man versucht hatte, die Wahlergebnisse ,,realistischer" erscheinen zu lassen. Lernen könnte unser Kanzler hier insbesondere von einem anderen seiner Vorgänger, dem aktuellen Geburtstagskind Gerhard Schröder. Der hätte gesagt: ,,100 % haben wir erfüllt". Auf die Journalistenfrage ,,100 % von was?" hätte er geantwortet: ,,Nun halten Sie sich nicht an Details auf. Ich habe bereits gesagt 100 % - und ich bin stolz darauf!" ,,Aber von was?" ,,Sehen Sie: Sie reden von Mutmaßungen, ich von Tatsachen. Und die sind 100%. Drucken Sie das!".
Man wird den Eindruck nicht los, dass unser Altkanzler mit seiner positiven Weltsicht und indiskutablen Schlagfertigkeit heute locker eine dritte, diesmal volle, Amtszeit gewinnen würde. Treffender gesagt: Wenn jemand mit seinem Talent der Verdichtung und Positivumkehr von Problemen auch nur 15 Minuten auf Tik-Tok wäre - der Wahlsieg würde ihm sicherlich vorzeitig zuerkannt. Die Forschungsgruppe Wahlen würde aufstehen und rhythmisch applaudieren. Unter Absingen des Deutschlandliedes. Natürlich in der Lothar de Maizière Fassung, also kombiniert mit Auferstanden aus Ruinen. Das würde selbst Erich Honecker, den alten Saarländer, vor Neid erblassen lassen. Getreu der Parole, die man auch unserem Kanzler zurufen möchte: Den Sozialismus in seinem Lauf, hält nie die 100 - sondern nur die 90 auf!

08.05.2024
Alexander Kira hat über internationalen Menschenrechtsschutz provomiert und ist Jurist, Moderator und Kabarettist. Er lebt und schreibt im Herzen von Berlin.
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