Wir wählen uns zu Tode

Wir wählen uns zu Tode

Das Verständnis von Demokratie, das sich hierzulande etabliert hat, ist in etwa Folgendes: in regelmäßigen Abständen hat der Bürger an die Urne zu treten und ansonsten gefälligst den Mund zu halten. Dabei lassen sich die Regierungen auch von so Kleinigkeiten wie Volksentscheiden wenig beirren, befinden sich stattdessen jedoch durchgängig im Wahlkampfmodus.

Von Bent-Erik Scholz
Auf den Straßen Berlins verfolgen mich die immergleichen Gesichter: Marie-Agnes Strack-Zimmermann im Christian-Lindner-Gedächtnis-Schwarzweiß; Sahra Wagenknecht, die auf Fotos seit fünfzehn Jahren nur einen einzigen Gesichtsausdruck beherrscht und zur Europawahl überhaupt nicht antritt; oder aber Katharina Barley, die scheinbar als Spitzenkandidatin zur Europawahl so unbekannt ist, dass man ihr auf den Plakaten noch Olaf Scholz zur Seite steht, damit der passierende Pöbel zumindest eine grobe Idee entwickelt, was es mit dieser mysteriösen Frau Barley auf sich hat.

Spannend ist jedoch auch, wer nicht mit Gesichtern seiner Kandidaten wirbt: die CDU weiß genau, dass sie mit dem Konterfei von Ursula von der Leyen wenig Land gewinnen kann. Die Christdemokraten besinnen sich hierbei auf ihre Kernkompetenz: luftige Hüllen, die irgendwie lecker klingen, die Kartoffelsuppe unter den Slogans, bestehend aus leeren Kohlenhydraten und trotzdem warm. ,,Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben" hieß es zur Bundestagswahl 2017. Heute: ,,Für ein Europa, das schützt und nützt." Sexy.

In allererster Linie haben wir es hierbei mit großem Theater zu tun. Jenes Deutschland nämlich, in dem wir so gut und gerne leben, traut seiner Bevölkerung sehr wenig Einfluss auf die eigenen Belange zu. Alle vier Jahre ist es uns freigestellt, das Personal auszutauschen, wobei die Verschiebungen insgesamt aufgrund der Fünf-Prozent-Hürde in den meisten Fällen eher überschaubar sind - viel mehr steht nicht zur Debatte. Haben sie es sich erstmal auf ihren Plätzen bequem gemacht, tun die Politiker in allererster Linie, was sie wollen. Wenn sie Stuss betreiben, muss man bis zur nächsten Wahl warten, um sie dafür sanktionieren zu können. Eigens mitdebattieren darf die Bevölkerung allerhöchstens auf Twitter oder TikTok.

Mittel, einen Politiker vom Hof zu jagen, der seine Prinzipien und Wahlversprechen innerhalb kürzester Zeit über Bord wirft, gibt es nicht - sonst wäre die Grünenfraktion im Bundestag heute deutlich kleiner. Hinzu kommt die geplante Wahlrechtsreform zur Verkleinerung des Bundestages, mit der es jedoch vor allem Direktmandaten von kleineren Parteien an den Kragen geht. Hier allein könnte man schon von einem groben Bruch mit dem Wählerwillen sprechen, schließlich ist der gemeine Wähler ja eben nicht nur dazu da, um Prozente zu verschieben, sondern um sich mit seiner Stimme Gehör zu verschaffen.

Gerade die Strukturen auf europäischer Ebene sind auf nahezu absurde Weise undurchsichtig. In Fünfjahresabständen werden die Bürger dazu angezählt, eine Stimme primär dafür abzugeben, dass man sie die nächsten fünf Jahre in Ruhe lässt. Es hat gute Tradition, gescheiterte oder schlichtweg nervige ehemalige Bundespolitiker nach Brüssel abzuschieben, um sie dort mit dem doppelten Pensum an Sitzungswochen beschäftigt zu halten und somit praktisch im lokalen Diskurs zum Verstummen zu bringen. Derweil wird in Europa über unser aller Zukunft entschieden - und wir wissen davon so gut wie gar nichts! Per SMS kostet Ursula von der Leyen die steuerzahlenden EU-Bürger Milliarden und Abermilliarden Euro für einen Impfstoff, der sich im Laufe der Zeit als deutlich weniger wirksam herausstellte, als man zunächst angenommen hatte. Ein einzelnes Unternehmen profitierte somit im großen Stil von der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.

Immer wieder hört man, die Legislaturperioden, insbesondere auf Bundesebene, seien zu kurz, um tatsächlich etwas zu ändern. Wir sollten nur alle fünf, oder gar alle sechs Jahre den Deutschen Bundestag wählen, um den armen Politikern überhaupt mal die Zeit zu verschaffen, ihre Pläne ganz in Ruhe umsetzen zu können. Der denklogische Fehler hierbei ist offensichtlich: den Regierungen steht es zu jeder Zeit völlig frei, zukunftsträchtige Entscheidungen zu treffen, deren Erträge erst lange nach der aktuellen Legislaturperiode ersichtlich werden - sie entscheiden sich jedoch bewusst dagegen, um populistisch auf Basis von Umfragen Fast-Food-Politik zu betreiben, die dem eigenen Machterhalt dienen soll.

Abgeschoben in die nächste Legislatur wird lieber das Unangenehme. Mit unmittelbaren Kleinsterfolgen will man sich schließlich selbst noch schmücken. Warum dies jedoch ein Problem des Wählers sein sollte, ist völlig unersichtlich. Sollten wir nicht viel mehr von den von uns gewählten Volksvertretern erwarten, gefälligst von ihrem hohen Ross herunterzukommen und sich dem deutschen Volk zu verpflichten, anstatt nur den eigenen Stuhl warmzuhalten? Ist es denn die Schuld des Wählers, wenn Lauterbach sich ein geflickschustertes Bürokratie-Monstrum von einer Cannabislegalisierung aus den Rippen leiert, um sich als Vorreiter feiern lassen zu können?

Der Autor Jean-Philippe Kindler bezeichnet in seinem lesenswerten Pamphlet ,,Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf" unsere Demokratie als ,,Kapitalismus mit Wahlen". Während also das Personal wechselt, dienen sich Politiker, sobald sie in Machtpositionen geraten, trotz aller laut vorgetragenen Versprechungen von unerschütterlichen Idealen, dann doch den Konzernen an. Selten ist das so offensichtlich wie in Zeiten, in denen die FDP das Finanzministerium anführt. Auch die sich selbst als sozial verkaufende AfD spricht immer wieder davon, wohlhabende Menschen oder Unternehmen auf keinen Fall stärker besteuern zu wollen. Einsatz für die Bedürfnisse des viel besprochenen (und selten wirklich angesprochenen) ,,kleinen Mannes" am Arsch. Angesichts des Gesetzesentwurfs zum Demokratieförderungsgesetz, welches je nach Auslegung durchaus auch missbraucht werden kann, um Regierungskritik unter Berufung auf Staatsgefährdung abzuwürgen. Man stelle sich vor, ein solches Gesetz wäre unter einer AfD-geführten Regierung in Kraft.

Wer in Berlin durch die Straßen geht, wird angeblafft von Plakaten, auf denen Slogans stehen wie ,,Dem Wohlstand eine Stimme geben" (CDU), ,,Gegen Hass und Hetze" oder ,,Für Maß, Mitte und Frieden" (beides SPD) - absolut nichtssagenden Kohlrübeneintopfformulierungen - oder: ,,Bildung: erste Verteidigungslinie der Demokratie." Natürlich ein Plakat der FDP, deren Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann selbst dann von der Kriegsrhetorik nicht abrücken kann, wenn es darum geht, Menschen zu politisch informierten mündigen Bürgern zu erziehen. Aber es ist natürlich begrüßenswert, dass die FDP sich für eine bessere Bildung einsetzen möchte, denn um die ist es in Deutschland denkbar schlecht bestellt. Es soll ja sogar sehr bekannte Politikerinnen in Regierungsparteien geben, deren Lesekompetenz scheinbar so beschränkt ist, dass sie Mutter Courage für eine positive Identifikationsfigur halten.

Es ist wie gesagt richtig, dass die meisten Regierungen in den vier Jahren, die ihnen angedacht werden, wenig Weltbewegendes schaffen. Das heißt jedoch nicht, dass man den Versuch unterlassen sollte. Leider beobachten wir eine völlig mutlose Regierung, die keinerlei Antworten auf drängende Zukunftsfragen liefert. In einer Herrschaft des Volkes wären somit eigentlich wir angezählt, unsere Bürgerpflicht auch über den Urnengang zur Abstimmung über Personen hinaus geltend zu machen. Dazu haben wir das Instrument des Volksentscheids. Aber wer in Berlin über Straßen läuft und Wahlplakate beobachtet, der kommt nicht umhin, sich an die letzten Volksentscheide hier in dieser Stadt zu erinnern:

Am 25. Mai 2014 wurde ein Volksentscheid zur Bebauung des Tempelhofer Felds durchgeführt. Die durch den Senat geplante Bebauung des beliebten Parks sollte durch das Plebiszit verhindert werden. Eine Mehrheit stimmte für den Volksentscheid, und somit für den Erhalt des Tempelhofer Felds als Naherholungsgebiet und Geschichtsstätte. Zuletzt gab es im Herbst 2023 Schlagzeilen über die geplante Bebauung des Tempelhofer Felds, das Volksbegehren steht also zur Disposition.

Der Volksentscheid zur Enteignung des Immobilienkonzerns Deutsche Wohnen fand zur Bundestagswahl 2021 statt. Ziel war es, die Vormachtstellung von Konzernen wie Deutsche Wohnen zu brechen, um sich ins Unermessliche steigernden Mieten vorzubeugen und Berlin als halbwegs bezahlbaren Lebensraum zu erhalten. Als Grundversorgung sollten Wohnungen von der Stadt vermietet werden, zu kontrollierten Preisen, damit kein darwinistischer Kampf um den knappen Wohnraum geführt würde. Der Volksentscheid erhielt große Zustimmung in der Wählerschaft. Umgesetzt wurde er bis heute nicht, er wird nicht einmal mehr thematisiert.

Das letzte Berliner Plebiszit war ,,Berlin 2030 klimaneutral". Es ging darum, ein Gesetz zu formulieren, das Berlin zur Einhaltung gewisser Emissionssparmaßnahmen verpflichten sollte. Dass es um die Machbarkeit nur mittelmäßig gut bestellt war, muss auch den Initiatoren sehr bewusst gewesen sein, die Idee war sicherlich nicht zuletzt auch, die Stadt für vergangene Versäumnisse zur Rechenschaft ziehen zu können. Das spielt aber auch alles keine Rolle, denn der Volksentscheid wurde durch die Stadt Berlin aktiv sabotiert, indem er eben nicht parallel zur Wiederholungswahl im Februar 2023, sondern über einen Monat später ausgerichtet wurde, obwohl eine Durchführung im Februar möglich gewesen wäre.

Der Grund, dass Volksentscheide oft mit Wahlen zusammengelegt werden, ist eben der, dass damit die Beteiligung erhöht werden kann. Nur für einen Volksentscheid geht der deutsche Michel eher nicht in sein Wahllokal. Kommt das Plebiszit hinzu, wenn ohnehin eine Wahl ansteht, wirkt sich das auf die Zahl der Teilnehmenden enorm aus. Den Volksentscheid zum Klimagesetz für Berlin also auf einen separaten Termin zu legen, führte zwangsläufig dazu, dass die nötige Quota nicht erreicht wurde. Hier wurde der Bevölkerung die Möglichkeit, die eigene Stimme einfach und niederschwellig hörbar zu machen, partiell verwehrt.

Als Hubert Aiwanger sagte, das Volk solle sich die ,,Demokratie zurückholen", wurde dies angesichts seiner unvertretbaren Fehltritte in seinem früheren Leben gehandelt wie eine verachtenswerte Drohgebärde. Doch wir müssen ernstlich nachdenken über den Zustand einer Demokratie, in der wir Menschen zu Macht verhelfen, die danach ungestraft gegen den Wählerwillen handeln und diesen sogar ignorieren können, wenn er offiziell dargelegt wird. Die Idee der repräsentativen Demokratie ist edel und zeugt von einem Glauben an das Gute im Menschen, kalkuliert allerdings die im Kapitalismus immer zu bedenkende Korrumpierbarkeit der Politiker nicht ein. Wenn Julia Klöckner als damalige Ernährungsministerin Lobreden auf Nestlé hält, sollte jedem mündigen Bürger klar sein, dass hier irgendetwas falsch läuft. Wessen Interessen sollen hier vertreten werden?

Über längere Amtszeiten lohnt es sich nur, zu streiten, wenn zeitgleich eine höhere Beteiligung der Bevölkerung an anderen demokratischen Prozessen ermöglicht wird. Man stelle sich vor, wir seien statt vier nun insgesamt sechs Jahre lang an die Ampel gebunden und wären ihr über den gesamten Zeitraum praktisch ausgeliefert, wenn es um potenziell existenzielle Debatten wie Waffenlieferungen oder Wehrpflichten geht. Stabilität in einer Demokratie kann nur existieren, wenn die Bevölkerung der Regierung tatsächlich vertraut und sich einmischen kann, wenn dieses Vertrauen schwindet. Wenn Politiker sich nicht mehr nur zu Wahlkampfzwecken leicht verdaulichen Phrasen und populistischen Thesen andienen, nur um dann, sobald erstmal gewählt, nicht zur Einhaltung gemahnt werden zu können. Wenn Konzerne, Lobbyverbände und zwielichtige Interessenvertreter entmachtet werden. Wenn dies gelingt, muss eine Regierung sich auch nicht mehr so sehr vor dem Internet fürchten, dass sie ein Demokratieförderungsgesetz vonnöten hielte.

06.05.24
*Bent-Erik Scholz arbeitet als freier Mitarbeiter für den RBB
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