Bußgeld fürs Misgendern? Was wirklich im Selbstbestimmungsgesetz steht
Das Selbstbestimmungsgesetz ist verabschiedet worden und Populisten sehen mal wieder den Untergang des Abendlandes hereingebrochen. Die Debatten verfehlen jedoch das Thema meilenweit und verlieren sich in primitiven Schlammschlachten voller Klischees. Worum geht es wirklich?
Von Bent-Erik Scholz
Von Bent-Erik Scholz
Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: Transsexualität existiert. Natürlich geht es hier um einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung, aber eine Demokratie zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie auch die kleinsten Randgruppen nicht zurücklässt. Die Gesellschaft ist aus Randgruppen zusammengesetzt, und auch wenn Mehrheiten regieren, darf dies nicht verwechselt werden mit einer Diktatur der Mehrheit über die Minderheit. Ein anderes Beispiel: Es gibt ,,nur" sehr wenige Menschen, die durch Nebenwirkungen der Corona-Impfung langfristig schwerwiegend zu Schaden gekommen sind, und trotzdem würde niemand behaupten, aufgrund ihrer geringen Menge seien ihre Leiden nicht der Rede wert. Transsexualität geht mit einem Gefühl von Dysphorie einher - dem Gefühl, im eigenen Körper nicht daheim zu sein, das biologische Geschlecht abzulehnen, sich damit nicht identifizieren zu können.
Bisher wurden die Belange von Menschen, die ihren Geschlechtereintrag ändern wollten, über das Transsexuellengesetz (TSG) geregelt. Wer bis jetzt in seinem Ausweis als ,,männlich" und nicht mehr als ,,weiblich" klassifiziert werden wollte, musste sich einem langwierigen Verfahren aussetzen, sowie zwei psychologische Begutachtungen auf eigene Kosten durchführen lassen, in denen zum Beispiel das Masturbationsverhalten abgefragt wurde, um eine Chance auf einen gerichtlichen Beschluss zu haben. Betroffene beschrieben diesen Prozess in Teilen als Demütigung, selbst das Bundesverfassungsgericht begriff die Bedingungen für diese spezielle Änderung des Personenstandes als Verstoß gegen Grundrechte. Schon allein deswegen war eine neue Regelung zwangsläufig.
Was ändert sich nun mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz? Wer seinen Geschlechtseintrag und seinen Vornamen ändern möchte, muss ab dem 1. November kein gerichtliches Verfahren mehr durchlaufen, sondern kann die Änderungen drei Monate im Voraus im Standesamt anmelden und dazu eine ,,Erklärung mit Selbstvergewisserung" abgeben, in welcher man darlegt, dass der gewählte Eintrag am Besten zur eigenen Identität passe und man sich des Gewichts seiner Entscheidung bewusst sei. Im Grunde genommen wie bei einer standesamtlichen Hochzeit, für die man auch kein psychologisches Gutachten vorlegen muss. Bei Minderjährigen bedarf es der Zustimmung durch die Sorgeberechtigten. Nach der Änderung des Geschlechtseintrags gibt es eine Sperrfrist von einem Jahr, bevor eine weitere Änderung beantragt werden darf.
Es gibt hier durchaus fundierte Kritik zu äußern, insbesondere in der Frage nach dem Umgang mit Minderjährigen - Erlaubnis der Eltern hin oder her, handelt es sich hierbei nicht vielleicht doch um eine Entscheidung, die man erst in volljährigem Alter treffen sollte, oder ist das ,,halb so wild", wenn es nur um einen im Zweifelsfall wieder änderbaren Eintrag beim Standesamt geht? Wie problematisch könnte der elterliche Einfluss auf die Entscheidung des Kindes sein? Trefflichen Diskussionsstoff gäbe es allenthalben, wichtige Fragen, die wir uns stellen müssen - was ist Geschlecht, was ist ,,sex" und ,,gender" abseits der rein biologischen Faktoren, denn schon seit Jahrhunderten werden Geschlechterunterschiede auch unabhängig von Chromosomen oder Geschlechtsorganen zivilisatorisch aufgeladen. Diese Aufladung kann sich auch immer wieder ändern, bedenken wir zum Beispiel, dass der High Heel ursprünglich als Schuhwerk für den Mann erfunden wurde und bis ins letzte Jahrhundert rosa als maskuline Farbe galt. Was also ist Trend und was genuine Entwicklung, die wir über die Jahrzehnte hinweg nachvollziehen können? All dies wären wichtige und spannende Debatten angesichts des neuen Gesetzes. Stattdessen reagiert der Affekt, und der ist zumeist laut und schlecht informiert.
Schauen wir uns mal die beliebtesten Argumente der vehementen Gegner dieses Gesetzes an. Da heißt es nun also, ,,perverse Männer" könnten das neue Gesetz ausnutzen, um sich Zugang zu Schutzräumen von Frauen zu verschaffen. Beispielsweise könnten sie im Fitnessstudio eine Damenumkleide aufsuchen, um die dort anwesenden Frauen zu belästigen, und dann argumentieren, dass sie sich als Frau fühlten. Natürlich ist es ausgesprochen sinnvoll und löblich, sich Sorgen um das Wohl von Frauen zu machen. Allerdings war es für einen Mann auch schon vor dem Selbstbestimmungsrecht möglich, in eine Frauenumkleide einzudringen. Als ich das letzte Mal im Fitnessstudio war, fand dort keine Ausweiskontrolle statt, in der die Besucher ihr Geschlecht nachweisen mussten. Ich halte es auch für unwahrscheinlich, dass nun, da es das neue Gesetz gibt, besagte ,,perverse Männer" plötzlich Lust bekommen, bürokratischen Aufwand zu betreiben, um ein Verbrechen zu begehen, anstatt sie, wie bisher, einfach direkt zu begehen.
Die Kritik an diesem Gesetz bezieht sich erstaunlicherweise so gut wie nie auf diejenigen, die tatsächlich davon betroffen sind: die Männer, die sich in den dystopischen Erzählungen der Gegner dieses Gesetzes auf missbräuchliche Art Zutritt zu Frauenräumen verschaffen wollen, sind ja eben nicht transsexuell, sondern tun laut diesen Erzählungen nur so. Aber selbst, wenn wir davon ausgehen, dass ein Mann mit einer Missbrauchsintention seinen Geschlechtseintrag ändern lassen würde, um in eine Frauenumkleide zu gehen, so hätte nach § 6 Absatz 2 das Fitnessstudio, genau wie bisher, weiterhin das Recht, diesen Mann achtkantig rauszuschmeißen: ,,Betreffend den Zugang zu Einrichtungen und Räumen sowie die Teilnahme an Veranstaltungen bleiben die Vertragsfreiheit und das Hausrecht des jeweiligen Eigentümers oder Besitzers sowie das Recht juristischer Personen, ihre Angelegenheiten durch Satzung zu regeln, unberührt." Ergo: Nach Hausrecht darf auch unabhängig vom Geschlechtereintrag rausgeschmissen werden, wer sich danebenbenimmt.
Okay, und wenn jetzt also gegen einen perversen Mann, der in der Frauenumkleide andere belästigt hat, Anzeige erstattet wird und er ins Gefängnis muss, kann er sich dann einfach in den Frauenknast verlegen lassen? ,,Die Unterbringung von Strafgefangenen muss sich nicht allein am Geschlechtseintrag orientieren, das SBGG gebietet mithin nicht, dass Personen immer entsprechend ihrem personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrag in einer entsprechenden Anstalt untergebracht werden. Das Grundgesetz und die Fürsorgepflicht der Anstalt verlangen vielmehr, bei der Unterbringung im Strafvollzug die Sicherheitsinteressen und Persönlichkeitsrechte aller Strafgefangenen zu berücksichtigen." (vgl. BT-Drucksache 20/9049, S. 44)
Ein großer Kritikpunkt an dem Gesetz liegt in der Behauptung, wer absichtlich oder fahrlässig die abgelegte Geschlechtsangabe oder den alten Namen eines Transmenschen nutze, könne zu einem Bußgeld verdonnert werden. Dies behauptete nicht zuletzt Maximilian Krah mehrfach lautstark. Vielfach ist diese Behauptung unreflektiert wiedergekäut worden. Ein Blick ins tatsächliche Gesetz spricht jedoch eine andere Sprache: hier geht es um das Offenbarungsverbot, geregelt in § 13, das weitestgehend auf § 5 des Transsexuellengesetzes basiert. Ergo: Es hat sich auf dieser Ebene eben genau nichts geändert.
Was das Offenbarungsverbot nämlich vorsieht, ist kein fahrlässiges Misgendering, sondern die Ausforschung und Offenlegung früherer Geschlechtsidentitäten, mit der die betroffene Person nicht einverstanden ist. Wenn bekannt ist, dass eine Person ihren Geschlechtseintrag oder Vornamen geändert hat, greift auch das Offenbarungsverbot nicht: Man kann ja nichts offenbaren, was jeder schon weiß. Und übrigens: Wer den sogenannten ,,Deadname" einer Person wiederholt benutzt und damit Geringschätzung und Respektlosigkeit gegenüber der Person zum Ausdruck bringt, hat sich bereits vor der Verabschiedung des Gesetzes letzte Woche strafbar gemacht. Das galt damals wie heute nämlich als Belästigung.
Das Offenbarungsverbot beinhaltet aber vor allem explizit, dass ein Bußgeld erst dann fällig wird, wenn Personen durch die unerwünschte Offenlegung der abgelegten Identität geschadet wird: ,,Der Tatbestand setzt voraus, dass infolge der Offenbarung eine Schädigung der materiellen oder ideellen Interessen der betroffenen Person tatsächlich eingetreten ist. Neben Vermögensschäden werden also auch ideelle Schäden erfasst, so zum Beispiel bei einer öffentlichen Bloßstellung der geschützten Person (,,Rufmord")." (vgl. BT-Drucksache 20/9049, S. 57) - Das bedeutet: Wer beabsichtigt, jemandem durch die Offenlegung seiner abgelegten Geschlechtsidentität zu schaden, kann einem Bußgeld entgehen, wenn diese Schädigung nicht reell eintritt. Wer also aus Versehen eine Person mit ihrem alten Namen oder Geschlecht anspricht, macht sich nicht strafbar.
Das Netz tobt über dieses Gesetz in einer Weise, die dem Inhalt in keiner Weise gerecht wird. Denn weder liefert das Selbstbestimmungsgesetz einen Freifahrtschein für potenzielle Sexualstraftäter, sich Zugang zu Schutzräumen des anderen Geschlechts zu verschaffen, noch wird jemandem, dem versehentlich ein falscher Name rausrutscht, ein Bußgeld in fünfstelliger Höhe in den Hals gedrückt. Selbst Sportwettbewerbe bleiben vom Gesetz unberührt - ein weiterer beliebter Strohmann. ,,Dann kann sich ja jeder Schluffi einfach als Frau eintragen lassen und dann die ganzen Boxkämpfe gewinnen!" Was sagt § 6 Absatz 3? ,,Die Bewertung sportlicher Leistungen kann unabhängig von dem aktuellen Geschlechtseintrag geregelt werden."
All diese Debatten haben ihren Platz. Es ist nicht illegitim, sich Gedanken und auch Sorgen darüber zu machen, wie wir in einer Welt, die auf einer Einteilung in zwei Geschlechter basiert, damit umgehen, wenn Leute sich dieser Binarität entziehen. Und es ist auch richtig, den Missbrauch hierbei einzukalkulieren. Aber ist es nicht interessant, dass es bei der Kritik so gut wie nie um jene Menschen geht, für die dieses Gesetz eigentlich verabschiedet wird: die Transsexuellen, die keine Muße mehr haben, sich vor Gericht rechtfertigen zu müssen, wenn sie ihrer eigenen Identität näherkommen wollen?
Stattdessen geht es erstaunlicherweise in den Horrorszenarien, die von erbitterten Feinden des Gesetzes aufgeblasen werden, fast immer nur um Männer, die sich nicht unter Kontrolle haben, die das Gesetz als Schlupfloch ausnutzen, um andere belästigen zu wollen - was, angesichts des ja trotzdem noch vorherrschenden Bürokratieaufwands, unwahrscheinlich ist. Hier jedoch offenbart sich jedoch auch eine überraschende Männerfeindlichkeit, denn hieraus spricht ein großes Misstrauen dem Maskulinen und seinen Trieben gegenüber. In den Beispielen der Gender-Gegner geht es nie um Frauen, die in Herrenumkleiden eindringen - vielleicht, weil sie glauben, dass den primitiven, dumpfen Typen das eventuell sogar gefallen würde? Es geht auch nie um Transmänner wie den als Frau geborenen Chris Mosier, der nach seiner Transition bei der US-amerikanischen Nationalmeisterschaft im Duathlon 2017 in seiner Altersgruppe den 2. Platz belegte.
Aber selbst wenn solche Geschichten einen Platz in diesen hochideologischen Debatten fänden, in denen sich primär Wut über eine befürchtete Bevormundung entlädt, so würden auch sie den tatsächlichen Inhalt des Gesetzes nur bedingt tangieren. Dieses nämlich hat mit den Schauermärchen, die seit Jahren darüber erzählt werden, wenig zu tun. Es ist bemerkenswert, wie lautstark hier um den Schutz von Frauen gebangt wird, während dieser teils von denselben Akteuren andernorts völlig ignoriert wird.
Hieraus spricht vor allem eine Überforderung mit sich schnell ändernden Zeiten. Zugegeben, dass der öffentliche Diskurs über die Belange von Transmenschen so intensiv geführt wird, ist in der Tat eine relativ neue Entwicklung. Lange Zeit war auch dieses Thema massiv tabubehaftet. Andererseits ist es nicht zwangsläufig der Modetrend, für den es manche gern halten, angesichts der Tatsache, dass es das Transsexuellengesetz schon seit den Achtzigerjahren gab. Die latente Abneigung gegen das Selbstbestimmungsgesetz basiert auf ähnlichen Impulsen wie die Abneigung gegen das Gendern: es handelt sich für viele um etwas Ungewohntes, wenn nicht gar Umständliches - und das ist auch okay, man bekommt ja eben kein Bußgeld aufgebrummt, wenn man eine Transfrau als Mann anspricht. Sämtliche Versuche, das Gendern zur Pflicht zu machen, zum Beispiel an Universitäten, sind von Gerichten in Windeseile abgeschmettert worden.
Niemand ist dazu gezwungen, dieses Gesetz in den Himmel zu loben, oder kritiklos alles zu akzeptieren, was im Zuge dieser Debatten passiert. Es gibt insbesondere mit Hinblick auf Schutzräume und Leistungsbewertungen, wie erwähnt, sehr legitime Fragen, für die wir kollektiv eine Antwort finden müssen, um Missbrauch vorzubeugen. Dieser antizipierte Missbrauch ist aber nicht die Schuld der Betroffenen, und er legitimiert auch nicht den grenzenlosen Zynismus, der dieser Debatte vielerorts zugrunde liegt. Vor allem aber ist es faktisch falsch, zu behaupten, dass durch dieses neue Gesetz das Tor zur Apokalypse geöffnet wird - wie dargestellt hat sich angesichts der bereits existierenden Gesetzeslage nicht allzu viel getan. Denn, um dies nochmal in Erinnerung zu rufen: der Kern dieses Gesetzes ist eine Reaktion darauf, dass das Bundesverfassungsgericht die bisherige Regelung zur Änderung des Geschlechtseintrags, das sich nahezu ausschließlich auf behördliche Vorgänge unmittelbar auswirkt, für nicht grundrechtskonform erachtete.
17.04.24
*Bent-Erik Scholz arbeitet als freier Mitarbeiter für den RBB
Bisher wurden die Belange von Menschen, die ihren Geschlechtereintrag ändern wollten, über das Transsexuellengesetz (TSG) geregelt. Wer bis jetzt in seinem Ausweis als ,,männlich" und nicht mehr als ,,weiblich" klassifiziert werden wollte, musste sich einem langwierigen Verfahren aussetzen, sowie zwei psychologische Begutachtungen auf eigene Kosten durchführen lassen, in denen zum Beispiel das Masturbationsverhalten abgefragt wurde, um eine Chance auf einen gerichtlichen Beschluss zu haben. Betroffene beschrieben diesen Prozess in Teilen als Demütigung, selbst das Bundesverfassungsgericht begriff die Bedingungen für diese spezielle Änderung des Personenstandes als Verstoß gegen Grundrechte. Schon allein deswegen war eine neue Regelung zwangsläufig.
Was ändert sich nun mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz? Wer seinen Geschlechtseintrag und seinen Vornamen ändern möchte, muss ab dem 1. November kein gerichtliches Verfahren mehr durchlaufen, sondern kann die Änderungen drei Monate im Voraus im Standesamt anmelden und dazu eine ,,Erklärung mit Selbstvergewisserung" abgeben, in welcher man darlegt, dass der gewählte Eintrag am Besten zur eigenen Identität passe und man sich des Gewichts seiner Entscheidung bewusst sei. Im Grunde genommen wie bei einer standesamtlichen Hochzeit, für die man auch kein psychologisches Gutachten vorlegen muss. Bei Minderjährigen bedarf es der Zustimmung durch die Sorgeberechtigten. Nach der Änderung des Geschlechtseintrags gibt es eine Sperrfrist von einem Jahr, bevor eine weitere Änderung beantragt werden darf.
Es gibt hier durchaus fundierte Kritik zu äußern, insbesondere in der Frage nach dem Umgang mit Minderjährigen - Erlaubnis der Eltern hin oder her, handelt es sich hierbei nicht vielleicht doch um eine Entscheidung, die man erst in volljährigem Alter treffen sollte, oder ist das ,,halb so wild", wenn es nur um einen im Zweifelsfall wieder änderbaren Eintrag beim Standesamt geht? Wie problematisch könnte der elterliche Einfluss auf die Entscheidung des Kindes sein? Trefflichen Diskussionsstoff gäbe es allenthalben, wichtige Fragen, die wir uns stellen müssen - was ist Geschlecht, was ist ,,sex" und ,,gender" abseits der rein biologischen Faktoren, denn schon seit Jahrhunderten werden Geschlechterunterschiede auch unabhängig von Chromosomen oder Geschlechtsorganen zivilisatorisch aufgeladen. Diese Aufladung kann sich auch immer wieder ändern, bedenken wir zum Beispiel, dass der High Heel ursprünglich als Schuhwerk für den Mann erfunden wurde und bis ins letzte Jahrhundert rosa als maskuline Farbe galt. Was also ist Trend und was genuine Entwicklung, die wir über die Jahrzehnte hinweg nachvollziehen können? All dies wären wichtige und spannende Debatten angesichts des neuen Gesetzes. Stattdessen reagiert der Affekt, und der ist zumeist laut und schlecht informiert.
Schauen wir uns mal die beliebtesten Argumente der vehementen Gegner dieses Gesetzes an. Da heißt es nun also, ,,perverse Männer" könnten das neue Gesetz ausnutzen, um sich Zugang zu Schutzräumen von Frauen zu verschaffen. Beispielsweise könnten sie im Fitnessstudio eine Damenumkleide aufsuchen, um die dort anwesenden Frauen zu belästigen, und dann argumentieren, dass sie sich als Frau fühlten. Natürlich ist es ausgesprochen sinnvoll und löblich, sich Sorgen um das Wohl von Frauen zu machen. Allerdings war es für einen Mann auch schon vor dem Selbstbestimmungsrecht möglich, in eine Frauenumkleide einzudringen. Als ich das letzte Mal im Fitnessstudio war, fand dort keine Ausweiskontrolle statt, in der die Besucher ihr Geschlecht nachweisen mussten. Ich halte es auch für unwahrscheinlich, dass nun, da es das neue Gesetz gibt, besagte ,,perverse Männer" plötzlich Lust bekommen, bürokratischen Aufwand zu betreiben, um ein Verbrechen zu begehen, anstatt sie, wie bisher, einfach direkt zu begehen.
Die Kritik an diesem Gesetz bezieht sich erstaunlicherweise so gut wie nie auf diejenigen, die tatsächlich davon betroffen sind: die Männer, die sich in den dystopischen Erzählungen der Gegner dieses Gesetzes auf missbräuchliche Art Zutritt zu Frauenräumen verschaffen wollen, sind ja eben nicht transsexuell, sondern tun laut diesen Erzählungen nur so. Aber selbst, wenn wir davon ausgehen, dass ein Mann mit einer Missbrauchsintention seinen Geschlechtseintrag ändern lassen würde, um in eine Frauenumkleide zu gehen, so hätte nach § 6 Absatz 2 das Fitnessstudio, genau wie bisher, weiterhin das Recht, diesen Mann achtkantig rauszuschmeißen: ,,Betreffend den Zugang zu Einrichtungen und Räumen sowie die Teilnahme an Veranstaltungen bleiben die Vertragsfreiheit und das Hausrecht des jeweiligen Eigentümers oder Besitzers sowie das Recht juristischer Personen, ihre Angelegenheiten durch Satzung zu regeln, unberührt." Ergo: Nach Hausrecht darf auch unabhängig vom Geschlechtereintrag rausgeschmissen werden, wer sich danebenbenimmt.
Okay, und wenn jetzt also gegen einen perversen Mann, der in der Frauenumkleide andere belästigt hat, Anzeige erstattet wird und er ins Gefängnis muss, kann er sich dann einfach in den Frauenknast verlegen lassen? ,,Die Unterbringung von Strafgefangenen muss sich nicht allein am Geschlechtseintrag orientieren, das SBGG gebietet mithin nicht, dass Personen immer entsprechend ihrem personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrag in einer entsprechenden Anstalt untergebracht werden. Das Grundgesetz und die Fürsorgepflicht der Anstalt verlangen vielmehr, bei der Unterbringung im Strafvollzug die Sicherheitsinteressen und Persönlichkeitsrechte aller Strafgefangenen zu berücksichtigen." (vgl. BT-Drucksache 20/9049, S. 44)
Ein großer Kritikpunkt an dem Gesetz liegt in der Behauptung, wer absichtlich oder fahrlässig die abgelegte Geschlechtsangabe oder den alten Namen eines Transmenschen nutze, könne zu einem Bußgeld verdonnert werden. Dies behauptete nicht zuletzt Maximilian Krah mehrfach lautstark. Vielfach ist diese Behauptung unreflektiert wiedergekäut worden. Ein Blick ins tatsächliche Gesetz spricht jedoch eine andere Sprache: hier geht es um das Offenbarungsverbot, geregelt in § 13, das weitestgehend auf § 5 des Transsexuellengesetzes basiert. Ergo: Es hat sich auf dieser Ebene eben genau nichts geändert.
Was das Offenbarungsverbot nämlich vorsieht, ist kein fahrlässiges Misgendering, sondern die Ausforschung und Offenlegung früherer Geschlechtsidentitäten, mit der die betroffene Person nicht einverstanden ist. Wenn bekannt ist, dass eine Person ihren Geschlechtseintrag oder Vornamen geändert hat, greift auch das Offenbarungsverbot nicht: Man kann ja nichts offenbaren, was jeder schon weiß. Und übrigens: Wer den sogenannten ,,Deadname" einer Person wiederholt benutzt und damit Geringschätzung und Respektlosigkeit gegenüber der Person zum Ausdruck bringt, hat sich bereits vor der Verabschiedung des Gesetzes letzte Woche strafbar gemacht. Das galt damals wie heute nämlich als Belästigung.
Das Offenbarungsverbot beinhaltet aber vor allem explizit, dass ein Bußgeld erst dann fällig wird, wenn Personen durch die unerwünschte Offenlegung der abgelegten Identität geschadet wird: ,,Der Tatbestand setzt voraus, dass infolge der Offenbarung eine Schädigung der materiellen oder ideellen Interessen der betroffenen Person tatsächlich eingetreten ist. Neben Vermögensschäden werden also auch ideelle Schäden erfasst, so zum Beispiel bei einer öffentlichen Bloßstellung der geschützten Person (,,Rufmord")." (vgl. BT-Drucksache 20/9049, S. 57) - Das bedeutet: Wer beabsichtigt, jemandem durch die Offenlegung seiner abgelegten Geschlechtsidentität zu schaden, kann einem Bußgeld entgehen, wenn diese Schädigung nicht reell eintritt. Wer also aus Versehen eine Person mit ihrem alten Namen oder Geschlecht anspricht, macht sich nicht strafbar.
Das Netz tobt über dieses Gesetz in einer Weise, die dem Inhalt in keiner Weise gerecht wird. Denn weder liefert das Selbstbestimmungsgesetz einen Freifahrtschein für potenzielle Sexualstraftäter, sich Zugang zu Schutzräumen des anderen Geschlechts zu verschaffen, noch wird jemandem, dem versehentlich ein falscher Name rausrutscht, ein Bußgeld in fünfstelliger Höhe in den Hals gedrückt. Selbst Sportwettbewerbe bleiben vom Gesetz unberührt - ein weiterer beliebter Strohmann. ,,Dann kann sich ja jeder Schluffi einfach als Frau eintragen lassen und dann die ganzen Boxkämpfe gewinnen!" Was sagt § 6 Absatz 3? ,,Die Bewertung sportlicher Leistungen kann unabhängig von dem aktuellen Geschlechtseintrag geregelt werden."
All diese Debatten haben ihren Platz. Es ist nicht illegitim, sich Gedanken und auch Sorgen darüber zu machen, wie wir in einer Welt, die auf einer Einteilung in zwei Geschlechter basiert, damit umgehen, wenn Leute sich dieser Binarität entziehen. Und es ist auch richtig, den Missbrauch hierbei einzukalkulieren. Aber ist es nicht interessant, dass es bei der Kritik so gut wie nie um jene Menschen geht, für die dieses Gesetz eigentlich verabschiedet wird: die Transsexuellen, die keine Muße mehr haben, sich vor Gericht rechtfertigen zu müssen, wenn sie ihrer eigenen Identität näherkommen wollen?
Stattdessen geht es erstaunlicherweise in den Horrorszenarien, die von erbitterten Feinden des Gesetzes aufgeblasen werden, fast immer nur um Männer, die sich nicht unter Kontrolle haben, die das Gesetz als Schlupfloch ausnutzen, um andere belästigen zu wollen - was, angesichts des ja trotzdem noch vorherrschenden Bürokratieaufwands, unwahrscheinlich ist. Hier jedoch offenbart sich jedoch auch eine überraschende Männerfeindlichkeit, denn hieraus spricht ein großes Misstrauen dem Maskulinen und seinen Trieben gegenüber. In den Beispielen der Gender-Gegner geht es nie um Frauen, die in Herrenumkleiden eindringen - vielleicht, weil sie glauben, dass den primitiven, dumpfen Typen das eventuell sogar gefallen würde? Es geht auch nie um Transmänner wie den als Frau geborenen Chris Mosier, der nach seiner Transition bei der US-amerikanischen Nationalmeisterschaft im Duathlon 2017 in seiner Altersgruppe den 2. Platz belegte.
Aber selbst wenn solche Geschichten einen Platz in diesen hochideologischen Debatten fänden, in denen sich primär Wut über eine befürchtete Bevormundung entlädt, so würden auch sie den tatsächlichen Inhalt des Gesetzes nur bedingt tangieren. Dieses nämlich hat mit den Schauermärchen, die seit Jahren darüber erzählt werden, wenig zu tun. Es ist bemerkenswert, wie lautstark hier um den Schutz von Frauen gebangt wird, während dieser teils von denselben Akteuren andernorts völlig ignoriert wird.
Hieraus spricht vor allem eine Überforderung mit sich schnell ändernden Zeiten. Zugegeben, dass der öffentliche Diskurs über die Belange von Transmenschen so intensiv geführt wird, ist in der Tat eine relativ neue Entwicklung. Lange Zeit war auch dieses Thema massiv tabubehaftet. Andererseits ist es nicht zwangsläufig der Modetrend, für den es manche gern halten, angesichts der Tatsache, dass es das Transsexuellengesetz schon seit den Achtzigerjahren gab. Die latente Abneigung gegen das Selbstbestimmungsgesetz basiert auf ähnlichen Impulsen wie die Abneigung gegen das Gendern: es handelt sich für viele um etwas Ungewohntes, wenn nicht gar Umständliches - und das ist auch okay, man bekommt ja eben kein Bußgeld aufgebrummt, wenn man eine Transfrau als Mann anspricht. Sämtliche Versuche, das Gendern zur Pflicht zu machen, zum Beispiel an Universitäten, sind von Gerichten in Windeseile abgeschmettert worden.
Niemand ist dazu gezwungen, dieses Gesetz in den Himmel zu loben, oder kritiklos alles zu akzeptieren, was im Zuge dieser Debatten passiert. Es gibt insbesondere mit Hinblick auf Schutzräume und Leistungsbewertungen, wie erwähnt, sehr legitime Fragen, für die wir kollektiv eine Antwort finden müssen, um Missbrauch vorzubeugen. Dieser antizipierte Missbrauch ist aber nicht die Schuld der Betroffenen, und er legitimiert auch nicht den grenzenlosen Zynismus, der dieser Debatte vielerorts zugrunde liegt. Vor allem aber ist es faktisch falsch, zu behaupten, dass durch dieses neue Gesetz das Tor zur Apokalypse geöffnet wird - wie dargestellt hat sich angesichts der bereits existierenden Gesetzeslage nicht allzu viel getan. Denn, um dies nochmal in Erinnerung zu rufen: der Kern dieses Gesetzes ist eine Reaktion darauf, dass das Bundesverfassungsgericht die bisherige Regelung zur Änderung des Geschlechtseintrags, das sich nahezu ausschließlich auf behördliche Vorgänge unmittelbar auswirkt, für nicht grundrechtskonform erachtete.
17.04.24
*Bent-Erik Scholz arbeitet als freier Mitarbeiter für den RBB
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