Propaganda machen immer die anderen

Propaganda machen immer die anderen

Die Psychoanalyse nach Sigmund Freud prägte den Begriff des ,,Madonna-Hure-Komplexes", nach welchem Männer Frauen entweder als heilig oder entwürdigt betrachten. Das Entwürdigtsein der Hure ist hierbei gekoppelt an sexuelle Lust, während die Madonna als Respektsperson kein Begehren zulässt. Es gibt also entweder die dumme Schlampe, die nur für Sex da ist, oder die unantastbare, nahezu göttliche Frauengestalt. In seinem knallharten Entweder-Oder, das keine Ambivalenz oder Grautöne zulässt und immerzu aburteilt, verbreitet sich ein vergleichbares Denken auch im politischen Diskurs, unabhängig von der persönlichen Gesinnung.


Von Bent-Erik Scholz
Es sind Zuschreibungen, die wir nur zu gut kennen, weil wir ständig mit ihnen konfrontiert werden: da gibt es auf der einen Seite das, was als ,,linksgrün", ,,Mainstream" oder ,,Systemling" bezeichnet wird, auf der anderen regieren Wortschöpfungen wie ,,Schwurbler", ,,Querdenker" oder der gute alte ,,Nazi". Nach diesem Denken werden verschiedenste Figuren, die sonst keinerlei Überschneidung hätten, in einen Sack geworfen, auf den anschließend mit dem Nudelholz geprügelt wird. Den Richtigen würde es schon irgendwie treffen.

Charakteristisch für diese Form der Entwürdigung sind mehrere Faktoren: Erstens wird die Einordnung in teils brutaler Schnelligkeit vollzogen, einzelne Sätze oder gar Satzbausteine oder generelle Positionen genügen hierfür. Zweitens wird den so Herabgewürdigten nicht selten die Fähigkeit zu einer eigenen Meinungsbildung und ihre Glaubwürdigkeit generell abgesprochen. So geschieht es, dass eine renommierte Politikwissenschaftlerin wie Ulrike Guérot, deren Kompetenz im Bereich der Europapolitik jahrelang als unumstritten galt, plötzlich aufgrund eines kritischen Essays über Sinn und Unsinn der Pandemiepolitik in derselben Schublade landet wie der ultranationale Attila Hildmann, der auf Telegram Beiträge zur jüdischen Weltverschwörung teilte und die Gültigkeit des Grundgesetzes in Zweifel zog.

Gleichzeitig wird regelmäßig Personen der öffentlichen Debatte angehangen, ihre Position nur deshalb zu vertreten, weil sie ,,gekauft" seien. Als Sahra Wagenknecht sich kritisch über Waffenlieferungen in die Ukraine äußerte, folgte der Vorwurf, Wagenknecht würde vom Kreml bezahlt, auf den Fuß. Wer sich in Pandemiezeiten verständnisvoll für das Ergreifen von Maßnahmen zeigte, sah sich nicht selten mit der Behauptung konfrontiert, dafür ,,vom Staat" entlohnt zu werden. Die geraunte Uneindeutigkeit dieser Formulierungen, ,,der Staat" oder ,,der Kreml" bezahlten irgendjemanden, sagt viel darüber aus, wie seriös solcherlei konspirative Unterstellungen sind.

Dieses Denken führt auf Dauer in eine völlig verzerrte, von Verschwörungstheorien geprägte Weltsicht, in der Heinz-Rudolf Kunze und Alice Weidel in denselben ideologischen Eintopf geworfen werden, weil beide das Gendern ablehnen, und in der wir hinter jeder politischen Äußerung Hintermänner erahnen. Praktisch seit Beginn der Bauernproteste Anfang des Jahres war in der Medienlandschaft das Munkeln zu vernehmen, der Aufstand sei ,,von Rechten unterwandert", während sich bei den Demonstrationen gegen Rechts das altbekannte Narrativ der von der Regierung bezahlten Antifa erneut Bahn brach.

Die Ungeduld, die bei der Zuordnung des Gegenübers an den Tag gelegt wird, führt in abenteuerliche Akte mentaler Akrobatik. So ist jeder, der das Interview von Tucker Carlson mit Wladimir Putin auch nur in Ansätzen kritisiert, sogleich gebrandmarkt als Anhänger des Mainstreams und als Sprechpuppe der Regierung - unabhängig davon, welche Argumentation die Kritik untermauert.

Der Mangel an Flexibilität sorgt auch für eine persönliche Brutalität: ein falscher Satz, und man ist bereits unrettbar in Ungnade gefallen. Statt für die Debatte oder für de Versuch, das Gegenüber wenigstens anzuhören und zu verstehen, entscheiden sich durch die Bank weg immer mehr Menschen dazu, Widerspruch nicht eine Sekunde lang zu tolerieren und so weit wie möglich aus dem eigenen Leben zu verbannen. Dass ähnliche Reflexe auch auf der linken Seite existieren, zeigen Bücher wie ,,Ein falsches Wort" von René Pfister, das eine vergleichbare Willkür der Verurteilung im amerikanischen Universitätsmilieu aufzeigt.

Analog zum Madonna-Hure-Komplex gibt es auch hier nur Freund und Feind, Respektsperson oder gekauftes Luder - kluge und mutige Stimmen, denen man nur aus ganzem Herzen zustimmen kann, oder aber unaufrichtige, dumme Gegenstimmen, mit denen man sich nicht auseinandersetzen muss. Mag man dem eigenen Selbstbewusstsein mit diesem Denken, alle anderen seien die Doofen und hätten prinzipiell ja mal gar keine Ahnung, einen Gefallen tun, so kapselt man sich selbst auch von der Realität ab und beginnt, mental einzurosten.

Sprachen wir vor einigen Jahren noch von einer ,,postfaktischen Zeit", so könnte man heute den Begriff der ,,postargumentativen Zeit" etablieren, in der es nicht einmal mehr nötig ist, sich von der Richtigkeit einer Behauptung zu überzeugen, sondern sich mit seiner peripheren Wahrnehmung begnügt.

,,Ein Prominenter hat sich übers Gendern lustig gemacht? Was für ein konservativer Boomer."
,,Ein Kabarettist hat über einen menschengemachten Klimawandel gesprochen? Linksgrünversiffter Staatspropagandist."
,,Ein Journalist hat einen Text über kriminelle Muslime in Deutschland veröffentlicht? Nazi."
,,Bisher fand ich diesen Künstler ja immer gut, aber jetzt, wo er was über Putin gesagt hat, was mir nicht gefällt, will ich nie wieder etwas von ihm sehen."

Sicherlich: Mit diesem Denken kommt man eine ganze Weile lang durch, wenn man bereit ist, in Kauf zu nehmen, dass die Welt dadurch sehr eindimensional wird. Bald jedoch wird man feststellen müssen, dass man in einem derart oberflächlichen Weltbild auch ziemlich schnell ziemlich einsam ist. Wo es nur Schwarz und Weiß gibt, läuft man bald Gefahr, dem Irrglauben zu erliegen, die Welt verstanden zu haben. Aber erstens ist jeder, der das von sich denkt, entweder ein Scharlatan oder ein einfältiger Dummkopf; und zweitens ist es auch gähnend langweilig, die gesamte Umwelt durch die Freund-Feind-Mangel zu drehen und sich nur noch mit den vermeintlichen Freunden beschäftigt. Eine mentale Verkümmerung ist in diesem Denken unausweichlich.

Intellektuell fit hält sich nur der Neugierige, der die Konfrontation mit dem Fremden oder Neuen nicht scheut, sondern sucht. Für den, nach Freud, weder Madonna noch Hure existiert, für den keine Haltung unantastbar ist und jede Position es verdient, zumindest gehört und ergründet zu werden. Wer neue Impulse pauschal ablehnt und das eigene Weltverständnis über alles andere stellt, verheddert sich in den eigenen Vorurteilen und bleibt am Ende dumm zurück.

Sich an willkürliche und oberflächliche Urteile zu klammern, ist wie Fast-Food fürs Gehirn: der erste Moment der Befriedigung mag stark sein, hält allerdings nur kurz an, und lässt einen mit der Zeit nur unbeweglicher und behäbiger zurück. Natürlich soll es niemandem genommen sein, sich öffentlich für die eigene intellektuelle Überlegenheit abzufeiern. Letztendlich jedoch ist klar: onanieren kann man allein zu Hause, in der politischen Öffentlichkeit müssen wir alle miteinander zurechtkommen, und weil ein Circle Jerk auf lange Sicht nur bedingt befriedigend ist, bedarf es eines Kompromisses.

Kompromisse machen kann nur derjenige, der versteht, was die Interessen des Gegenübers sind. Und zwar nicht, indem er sie unterstellt, sondern indem er sie nachvollzieht, bevor er die Bedürfnisse des Anderen zur Sperrzone erklärt und den Kontakt in einer ,,Spiel nicht mit den Schmuddelkindern"-Manier verunmöglicht.


16.02.24
*Bent-Erik Scholz arbeitet als freier Mitarbeiter für den RBB
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