Körper, Grenze, Haut - über Verwundbarkeit und Verpanzerung

Körper, Grenze, Haut - über Verwundbarkeit und Verpanzerung

Mein Blick richtet sich auf den Zeigefinger meiner rechten Hand, fokussiert die Fingerspitze, die sich mir nähert, die sich in Richtung meiner Lippen bewegt und sie schließlich berührt. Haut auf Haut. Mein ICH, das sich eben noch in der Spitze meines Fingers konzentrierte, springt über in meine Lippe, springt zwischen ihr und meinem Finger hin und her. Finger spürt Lippe. Lippe spürt Finger. Finger und Lippe werden sich durch ihre gemeinsame Berührung abwechselnd fremd. Woher kommt diese Bewegung? Kommt sie von innen? Kommt sie von außen? Zwar weiß ich ihn als Teil meines Körpers, doch scheint sich mir dieser Finger zu nähern, als gehöre er einem anderen. Ich werde mir selbst fremd, bin außer mir.

von Benjamin Johann
Die Grenze bestimmt die Gegenwart. Doch das Verhältnis zu ihr ist gespalten. Die Rede ist von nationalstaatlichen Grenzen, von Obergrenzen, vom Fortbestehen ehemaliger Grenzen, ideologischen Grenzen, von Grenzen des Sagbaren und jenen des guten Geschmacks. Von Grenzen, die es zu pflegen, zu wahren, zu schützen gilt, und solchen, die nicht überschritten werden dürfen. Grenzen, die sich in Auflösung befinden, und jene, die verletzt werden. Während die einen nicht scharf und absolut genug sein können, kann die Überwindung und Beseitigung anderer nicht schnell genug von statten gehen. Körperliche, geografische, biologische, zivilisatorische, politische, psychologische, symbolische, moralische, planetarische Grenzen.
Wir projizieren eine unsichtbare, imaginäre Grenze um uns herum und nennen es Privat- oder Intimsphäre, die im sozialen Miteinander tunlichst eingehalten und nicht überschritten werden sollte. Wir verschanzen uns in panzerähnlichen Automobilen, als bestünde die Notwendigkeit, sich mit dieser Prothese auszustatten, um den Herausforderungen des Alltags gewachsen zu sein. Oft genug mag man darin eine Signatur des Zeitgeistes erkennen. Die der hyperindividualistischen Vereinzelung und egologischen Isolation - jeder für sich und gegen alle. In sich geschlossene Monaden, eine jede für sich allein unterwegs im bedrohlichen Terrain der Gegenwart. Eine Atomisierung der Gesellschaft, die im Zuge der Corona-Pandemie überdeutlich wurde. Der Andere wurde zur Gefahr, die Berührung, der Atem, zur ultimativen Bedrohung. Zugleich ließ sie unsere Abhängigkeit voneinander sowie unsere geteilte Verwundbarkeit überdeutlich werden.
Konträr zu jeder Form der Vereinzelung lässt sich eine Überpräsenz an Solidaritätsbekundungen beobachten. Der Slogan der Stunde, insbesondere unter jüngeren Menschen: Fühl ich! Sicherlich, man braucht sich keine Illusionen über den inflationären Charakter dieser kommunikativen Praxis machen. Allzu schnell entpuppt sich die Behauptung von Empathie als bloße Simulation von Mitgefühl und die von Solidarität als ein eigennütziger Automatismus der Selbstbestätigung. Womöglich verbirgt sich dahinter aber auch eine Sehnsucht nach einer neuen Empfindsamkeit. Denn paradoxerweise werden wir sowohl empfindsamer als auch reizbarer, sowohl sensibler als auch nicht empfindsam genug, werden zarter und stumpfer zugleich, verletzlich und verständnisvoller einerseits, überempfindlich und unempfänglicher andererseits. Wir fühlen zu viel, fühlen uns zum Fühlen genötigt. Sind überinformiert, sehen uns einem zu viel an Information ausgesetzt, mit einem zu viel an Überforderndem konfrontiert. Sind unfähig die Menge an Information aufzunehmen, zu verarbeiten, festzuhalten. Sie penetriert und perforiert uns, wie uns der Appell ans Fühlen aushöhlt und in die Verpanzerung drängt. Der individuelle Anspruch, der ein gesellschaftlich verinnerlichter ist, alles zu fühlen, mit allen und allem solidarisch zu sein, jede Ungerechtigkeit wahrzunehmen usw., macht uns zu dünnhäutigen Dickhäutern, anästhetisiert von der endlosen Menge an Verletzungen aller Art.
Körper schier unerhörter Gespanntheit bevölkern insbesondere die sozialen Medien. Körper, deren Inneres dermaßen aggressiv nach außen drängt, so dass die Haut an die Grenze ihrer Dehnbarkeit gebracht erscheint. Körperliche Demonstrationen von zum Bersten gespannter Grenzen, die beinahe befürchten lassen, dass bereits die geringste reale Berührung ihr Zerreißen bedeuten würde. Nichts wird hartnäckiger geleugnet als die Falte und wenig fürchten wir mehr als die Verletzung unserer Haut, die Verletzung unserer Grenze, als bestünde die reale Gefahr, dass wir aus uns selbst ausflössen, wie Wasser aus einem beschädigten Krug.
Deshalb schützen wir die Haut, weil wir uns schützen möchten, nicht allein im körperlichen Sinn, sondern vor allem auch im symbolischen. Die Grenze möchte nicht in Frage gestellt werden, weil sie ihre Auflösung fürchtet. Was sind wir, wo sind wir, wenn wir unsere Grenze verlieren? Diese fundamentale existenzielle Angst verkleidet sich mit allerlei Masken und kehrt auf unterschiedlichsten Ebenen wieder. Wer von der Grenze spricht, der spricht von der Verletzung, von der Angst vor ihrer Verletzung. Hautpflege ist Grenzschutz.
Die Haut ist das größte Organ des Menschen. Haut wird gewaschen, eingesalbt, bemalt, geglättet und gestrafft, dient als Leinwand und wird als Spiegel unseres Befindens begriffen, ähnlich wie die Augen, denen man nachsagt, in ihnen zeige sich die Seele. Unabhängig von unserer Kontrolle altert Haut, wird faltig, fleckig, wird dünner. Haut umhüllt und enthüllt, verbirgt und schützt, offenbart und gibt preis. Die, die nicht anders können, die stecken in ihrer Haut fest. Und die, denen es zu viel wird, die fahren gleich aus ihr.
Ganze Karrieren in TV und Internet beruhen darauf, dass das dermatologische Reinigen von Haut, dargestellt in mikroskopischer Vergrößerung derselben, zu einem Spektakel der explosiven Veräußerung von Pickeln, Zysten und Abszessen wird. Das Interesse auf das Innere des Körpers insistiert, lässt sich nicht leugnen, und ist vermutlich ebenso alt wie die Angst vor der Verletzung. Als verbärgen sich die ältesten Geheimnisse in der Tiefe des Körpers, die sich mit jedem Quäntchen Talg oder Eiter oder Blut endlich an der Oberfläche enthüllten.
Straftaten mit Messergewalt lassen sich politisch auch deshalb so wirksam instrumentalisieren, weil die Angst vor dem Fremden mit der Angst des Schnitts verknüpft wird, mit der Angst der gewaltsamen Penetration des Körpers. Abschotten, dichtmachen, als könnte man sich vor der Welt verschließen, als wären Körper, Körper jeglicher Art, Räume, die sich abschließen ließen.
Für gewöhnlich begreift man die Haut als Hülle, als Fassung, die das enthält, was sie umschließt. Mit Recht lässt sich behaupten, dass die Haut auch die wichtigste Grenze für den Menschen darstellt. Sie ist diejenige Grenze, die uns allen am nächsten ist. Gleich einer scharfen und eindeutigen Linie scheidet sie das voneinander, was diesseits und was jenseits, was innen und was außen, was Eigenes und was Fremdes ist. Die Haut als absolute Grenze, die äußere Hülle des Inneren, das es einschließt und vom Äußeren trennt. Das ist mein Körper und meine Haut zeigt an, wo ich ende. Innen, da residiert mein ICH. Dort ist meine Grenze. Jenseits dieser Grenze liegt alles andere, die äußere Welt. Ein trügerischer Dualismus.
,,Das Tiefste am Menschen ist die Haut", schrieb einst der französische Dichter Paul Valéry. Der Körper ist nichts Volles, sondern offener Raum. Eine Einfaltung des Außen, die als Innen erfahren wird. Und ist nicht selbst die Leere zwischen den Körpern eine Art von Körper? ,,There's a gap in between, there's a gap where we meet" heißt es in dem Song ,,Where I End and You Begin" der Band Radiohead. Im Katalog der Band Swans findet sich ein Song mit ähnlichem Titel, ,,Where Does a Body End?". Wo beginnt, wo endet ein Körper? In einer Dokumentation über die Swans philosophiert Michael Gira, Kopf der Band, über den materialistischen Kreislauf und Austausch, in dem wir alle uns befinden. Wir alle sind temporäre Anhäufungen von Molekülen in der Form eines menschlichen Körpers, porös, durchlässig, auf fluide Weise mit der uns umgebenden Welt verbunden. Spätestens wenn wir sterben, löst sich unser Körper auf, verflüchtigt sich, andere Organismen nähren sich von ihm, stoßen Gase aus, die andere Menschen wiederum einatmen. Der Körper hat kein Ende, ist grenzenlos.
Wir können viel über uns und das Verhältnis zur Welt lernen, wenn wir anders über die Grenze nachdenken. Die Grenze ist keine Linie, sondern eine Schwelle, Raum des Übergangs, der Vermittlung, Zone des Interesses, in dem sich die Prozesse des inter-esses (lat.) abspielen, die Prozesse des im Dazwischen-Seins. Die Bereitschaft sich zu öffnen ist die Bereitschaft zur Preisgabe der eigenen Verletzlichkeit und daher die Bereitschaft zum potenziellen Verletzt-Werden. Nicht, weil man tatsächlich verletzt werden möchte. Sondern, weil die wirkliche Begegnung, der wirkliche Austausch, nur unter der Bedingung einer Offenheit stattfinden kann. Unter Rückgriff auf den jüdischen Denker Emmanuel Levinas könnte man die Vorstellung einer vorphilosophischen Verpflichtetheit, ein dem Anderen-Ausgeliefert-Seins starkmachen. Auf dem Spiel steht die Entdeckung einer unhintergehbaren Verbundenheit von Körpern, die ihrer gemeinsam geteilten Verwundbarkeit entspringt. Man kann sich als Gleiche begreifen, ohne sich gleich zu machen, sich nämlich in seiner Verschiedenheit anerkennen und als Gleiche behandeln, wie es Jule Govrin so treffend formuliert.
Der heutige Rassismus maskiert sich als Ethnopluralismus, spricht nicht mehr von Rasse und Genen, sondern von Kulturen, die vereinbar oder eben unvereinbar miteinander seien. Eine neue Sprache für dieselben alten Einteilungen. Es gibt nur menschliches Blut, sagt die 1921 geborene Holocaust-Überlebende Margot Friedländer.


07.03.2025
Benjamin Johann (geb. 1988) studierte Theater- & Medienwissenschaft, Germanistik sowie Ethik der Textkulturen, arbeitete an der FAU Erlangen-Nürnberg, ist mittlerweile als freier Autor tätig, publiziert in unterschiedlichen Formen und Formaten und ist Mitbetreiber des Podcasts ,,Projektionen - Kinogespräche". Seine Beschäftigung mit Film, Kunst und Kultur ist immer auch Auseinandersetzung mit Gesellschaft, Philosophie, Politik - stets auf der Suche nach den ethischen wie ästhetischen Fluchtlinien unserer Gegenwart. An die überlebenswichtige Kraft der Faszination und des Anarchischen erinnert ihn seit ihrer Geburt seine Tochter.


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