Medien: Die Ersatzreligion

Medien: Die Ersatzreligion

Mir platzt der Kopf. Ständiger Input. Nachrichten etablierter Medien, denen ich nicht mehr uneingeschränkt glauben kann stehen Nachrichten so genannter alternativer Medienangebote gegenüber, die aber genauso durchseucht sind von den Ideologien ihrer Macher. Eine echte Alternative könnte Social Media sein - X, Instagram, TikTok. Doch auch dort ist Wahrheit eine Glaubensfrage. Hunderte, wenn nicht gar tausende Posts über Zwischenfälle in aller Welt sind aufgrund ihrer Quantität kaum auf Echtheit zu prüfen. Schon lange geht es nicht mehr darum, objektiv und gut informiert zu sein; es geht darum, an die vermeintlich richtigen Informationen zu glauben und diesen Glauben dann zu missionieren. Gott ist tot. Der Algorithmus lebt.

von Daniel Nuber
Als Mittdreißiger bin ich während des Sterbeprozesses der analogen Gesellschaft aufgewachsen. Ende der 1990er und in den frühen 2000er Jahre besaß mein Vater ein Nokia-Handy, das wie ein Ziegelstein gebaut und zu nicht mehr zu gebrauchen war als zu telefonieren. Fernseher waren groß, breit und schwer. Mein Windows 95-Rechner brauchte mehrere Minuten, ehe er startklar war, das 56k Modem ratterte noch länger, bis eine Verbindung zustande kam. Der Informationsfluss war linear und vergleichsweise langsam. Fernseher und Radio sprachen geradlinig zu uns, nur die Gesichter und Stimmen der Moderatoren änderten sich von Sender zu Sender und von Sendung zu Sendung, die Informationen und die Interpretationen blieben die gleichen. Dadurch war das Leben leicht. Weder ich noch meine Mitmenschen mussten entscheiden, ob etwas, das in den Nachrichten geschildert wurde, tatsächlich passiert ist und ob es so passiert ist, wie es geschildert wird - nicht, weil es damals keine Ideologie der Medienschaffenden gab, sondern weil die Medien-Musik immer und überall nahezu identisch war und Ideologie so kaum auffiel. Und sie spielte seltener. Es gab keine Dauerbeschallung, außer vielleicht auf Nachrichtensendern, die ununterbrochen sendeten, doch auch da wiederholten sich die Beiträge in einem gewissen Intervall. Heute öffne ich eine App und erhalte in wenigen Sekunden unübersichtlich viele Beitrage zu ein- und demselben Ereignis. Die immer gleichen Fratzen in Talkshows erzählen mir dann, wie ich ebenjenes Ereignis zu verstehen habe und in den regulären Nachrichtensendungen wird so manches gar nicht oder nur verkürzt erwähnt. Alternativmedien berichten über diese Geschehnisse oft vollkommen anders und versuchen gar nicht erst, ihre dahinterstehende Ideologie zu verbergen und behaupten natürlicherweise, im Besitz der vollumfänglichen Wahrheit zu sein. Obwohl ich das sehe und mir dieser Manipulationsversuch auffällt, bleibt es in meinem Gehirn hängen und verunsichert mich. Wie soll ich wissen, was wahr, was richtig ist?
 
Gar nicht. Wir alle sind zum Glauben verdammt. Unter den Medienkonsumenten gibt es keine Ungläubigen, keine Atheisten. Es gibt jene, die glauben NIUS und nicht der Tagesschau, es gibt jene, die glauben beiden nicht, aber Beiträgen aus X oder anderen Plattformen - es gibt aber niemanden, der nichts und niemandem glaubt. Das ist auch nur logisch, denn Nachrichten sind grundsätzlich retrospektiv. Das, was erzählt wird, ist zum Zeitpunkt der Erzählung in der Regel abgeschlossen. Klar, wir könnten laufende Nachrichten etwa über den Ukrainekrieg prüfen, in dem wir in die Ukraine fahren und kontrollieren, ob das stimmt, was wir darüber lesen und hören, aber: wer macht das schon? Nur dann jedenfalls könnten wir wissen und müssten nicht glauben. Aus Praktikabilitätsgründen aber glauben wir also irgendwem und irgendwem nicht. Dummerweise glauben wir grundsätzlich das, was wir am häufigsten sehen und im Internetzeitalter sehen wir das am häufigsten, was wir am häufigsten konsumieren. Im Grunde verengen wir durch unser Nutzungsverhalten unser individuelles Medienangebot und schaffen so die Welterzählung, die wir gerne hätten, auch wenn sie nicht zwingend die Realität widerspiegelt. Ähnlich wie im oben beschriebenen analogen Zeitalter wechseln so nur noch die Protagonisten, nicht aber die Inhalte. Schafft es doch ein nicht zu unserer selbstgeschaffenen Wirklichkeit passender Beitrag in unseren Feed, wird er einfach als Bestätigung hergenommen, dass wir im Besitz der Wahrheit sind. Denn die ist ja überproportional vorhanden, nicht mehr zu leugnen und offensichtlich - dank den Algorithmen. Die Ausnahme bestätigt schließlich die Regel oder, in dem Fall: Die Wahrheit.
 
Gefährlich daran ist, dass das Internet Bestandteil der Wirklichkeit geworden ist. Die analoge und die digitale Welt sind eng miteinander verflochten und beeinflussen sich gegenseitig. In Form des Nutzers, also uns Menschen, ist sie haptisch. Die Irren, die im Internet blanken Hass verbreiten und ihre Gläubigen finden, laufen auf der Straße herum, gehen einkaufen, vielleicht arbeiten und sind auch da hasserfüllt. Die sexistischen alten Säcke, die auf Instagram jungen Frauen Sexangebote machen und erzählen, wie hart sie sie durch ihr Pflegeheim nehmen würden, könnten unsere Nachbarn sein - und sie können sich vernetzen, also Glaubensgemeinschaften bilden, die solche Beiträge gut finden. Mehr noch: womöglich stiften sie sich gegenseitig dazu an, ihren Fantasien im echten Leben freien Lauf zu lassen und die Dokumentation hiervon dann ihrer Internetgemeinde zugänglich zu machen, die diese dann wiederum anfeuert. Ein Teufelskreis. Zudem trägt der Algorithmus auch bei ihnen dazu bei, solch schändliche Kommunikation zu normalisieren, weil er ihnen irgendwann nur noch zu dieser Haltung passende Inhalte anzeigt und so zu dem Glauben führt, dass das in Ordnung ist. Auch Extremisten aller Lager, die unter dem Vorwand nationaler Sicherheit rechts- oder linksextreme Parolen unter Beiträge schreiben und hetzerische Videos verbreiten, können sich vernetzen. Freilich gilt selbiges auch für all die anderen, die vermeintlich harmloseren Themen folgen und sich zu ihnen äußern - wie etwa Beiträgen von perfekt inszenierten Influencerinnen und Influencern, die nie Pickel oder Durchfall haben und mit dieser Darstellung unsichere Persönlichkeiten zu Komplexen führen, die vielleicht unter beidem leiden. All die grenzenlos hetzerischen und perfekt-glänzenden Beiträge sind ganz oder teilweise gelogen, doch die Auswirkungen sind echt. Die Gesellschaft verrohrt zunehmend, das soziale Klima wird kälter, unsozialer und brutaler, was dazu führt, dass das digitale Klima ebenfalls härter wird. Das, was früher Kriege zwischen Religionsgemeinschaften waren, wird allmählich zu einem Krieg der Desinformationsgemeinschaften, dem eines zugrunde liegt: Ein Mangel an Informationen.  
 
Ohne Nachrichten bekäme ich nicht einmal mit, wenn im Nachbardorf ein Haus abbrennt. Mit der Nachricht darüber kann ich nur zu wissen glauben, dass es abgebrannt ist, ich kann es aber nicht rückgängig machen; ich kann mich jedoch steuern lassen. Beispielweise ließe sich die Nachricht als Handlungsaufforderung begreifen, Geld an die Familie zu spenden. Oder ins Rathaus zu gehen und nach einer Feuerwehr zu rufen. Ich kann aber auch behaupten, dass das schon der zehnte Brand in wenigen Monaten ist, der Bürgermeister nur besoffen in der Kneipe herumlungert, andere anstacheln und ihn dann stürzen, obwohl all das gar nicht stimmt - das würde kaum jemand prüfen. Genau das ist das Problem: Algorithmen und die mit ihm zusammenhängende Beiträge funktionieren nur und ausschließlich deshalb, weil die Empfänger niemals über alle notwendigen Informationen verfügen, um den angezeigten Beitrag richtig einordnen zu können und weil sie sich gleichzeitig dessen gar nicht bewusst sind. Es ist das Spiel mit der Unwissenheit, das zum Glauben führt. Oft geht es natürlich weniger um materielle Ereignisse, sondern um moralische Fragen und um das soziale Miteinander. Ein abgebranntes Haus kann ich mir ansehen, jemand, der verletzt oder getötet worden ist, ist nach der Tat im Krankenhaus oder unter der Erde und für mich eher nicht zugänglich. Also muss ich das glauben, was mir berichtet wird und die Art wie es berichtet wird, emotionalisiert mich. Da bin ich keine Ausnahme. Auch ich sehe mir lieber Beiträge an, die mich wütend und emotional werden lassen als solche, die mich nüchtern über Fakten aufklären. Manche lesen gerne Bücher, viele schauen sich lieber Bilder an. Letztere sind ein dankbares Opfer der Desinformationsgemeinschaften. Das ist auch das, was wir gegenwärtig in vielen Ländern erleben - auch in Deutschland.
 
Die Auswirkungen sehe ich persönlich in meinem sozialen Umfeld. Die Unzufriedenheit über die ,,Zustände in diesem Land" wächst. Genau definieren, was damit gemeint ist, kann kaum jemand. Mal geht es um die steigenden Gewaltdelikte, mal um die wirtschaftliche Situation. Beides ist nachweislich durch Zahlen mehr als nur unbefriedigend, doch die kennen die wenigsten Personen, mit denen ich gesprochen habe - und noch weniger sind von dem fehlenden Wirtschaftswachstum oder der Gewalt selbst und existenziell betroffen. Es ist also mehr das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung sei, das die Unzufriedenheit auslöst. In vielen Straßen-Interviews, die auf Plattformen wie YouTube kursieren, ist das Bild ähnlich. ,,Es kann so nicht weitergehen", heißt es oft, ,,es muss sich was ändern" - aber was? Und vor allem: Wie soll es weitergehen? Im Kampf der Propagandisten der Desinformationsgemeinschaften um ihre Anhänger werden selbige mit Wahrheiten und Unwahrheiten bombardiert, so dass irgendwann weder das Problem noch Lösung benannt werden können, nur dass alles irgendwie doof ist, ist klar. Herrschte diese Unzufriedenheit denn, wenn es weder Nachrichten noch Instagram, TikTok und ähnliches gäbe? Oder würden wir dann viel mehr damit beschäftigt sein, sprichwörtlich vor unserer eigenen Haustüre zu kehren und so unsere Straßen sauber zu halten? Vielleicht fühlten wir uns dann auch nicht ganz so hilflos im Angesicht all des Leids, das in unsere Feeds und Sender gespült wird und hätten womöglich gar nicht so viel Leid zu beklagen, weil wir mehr Probleme lösen als neue schaffen. Extremistische Kräfte hätten dann auch deutlich schlechtere Karten, mit dem Brüllen einfacher Lösungen für komplexe Problemstellungen eine Fangemeinschaft zu generieren, weil sich eben nicht jeder zum Opfer jedes Ereignisses stilisieren könnte, von dem er gelesen hat, es ihn jedoch nicht tatsächlich persönlich selbst getroffen hat.
 
Durch das Internet sind die Tragödien dieser Menschheit viel näher gerückt. Das hat auch sein Gutes: Die Weltgemeinschaft wird darüber informiert, wenn todbringende Kriege ausbrechen, Massaker stattfinden und andere Gräueltaten. Viel zu oft sieht sie trotzdem tatenlos dabei zu und dennoch: wie viel mehr militärische Auseinandersetzungen, wie viel mehr Mord und Totschlag gäbe es wohl ohne öffentliche Aufmerksamkeit? Öffentlichkeit kann schützen. Sie sollte jedoch lernen, mit Informationen und Desinformationen umzugehen und den Input in Eigenverantwortung zu begrenzen. Denn das Gefühl, dass mir der Kopf platzt, habe ich allen voran aufgrund der Quantität, mit der all das auf mich hereinprasselt. Wir alle, die wir die Öffentlichkeit bilden, können uns auch selbst zur Gefahr werden, wenn wir uns dahingehend manipulieren lassen, die Extreme für gut zu befinden - egal welche. Selbst Wasser, das für uns überlebensnotwendig ist, ist bei übermäßigem Konsum tödlich.
 
Schwierig ist das allemal. Denn nicht nur ich habe eine Leidenschaft für das Betrachten schrecklicher Ereignisse, möglichst reißerisch und emotional dargestellt, so dass sie mich aufwühlen und fesseln - andere haben diese auch. Sind die Apps geschlossen, das Handy vielleicht stumm, so dass keine inflationären Eilmeldungen das Gerät zum Vibrieren bringen, folgen analoge Gespräche über das, was wir Menschen uns gegenseitig antun. Bomben auf Städte, Panzer auf Straßen, Kugeln in Körper, Messer in Hälse. Rechtsnationalisten, die nach der Macht in vielen Ländern greifen und sie durch Wahlen auch bekommen. Warum passiert all das? Es beginnt dann der echte, analoge Krieg der Desinformationsgläubigen in Form von Dialogen. Ich habe Freunde, die in erster Linie ,,die Ausländer" für all das verantwortlich machen, womit sie in Wirklichkeit aber nicht ausländische Mitbürger als solche meinen, sondern Muslime. Andere glauben, ein ausufernder Kapitalismus wäre schuld, der zu viele Menschen zurücklässt, die dann zur Gewalt greifen. Manche sind auch nicht abgeneigt von dem Gedanken an einen Deep-State, also Menschen, die im Verborgenen Weltpolitik betreiben, auf die - außer ihnen selbst - ohnehin niemand Einfluss hat. Politik, Wahlen, der Bundestag - alles doch nur Schmierentheater! Wirklich? Vielleicht. Vielleicht nicht. Vielleicht ist auch an allem ein bisschen was Wahres dran und ein bisschen was Falsches auch.
 
Neben der Reduktion von Nachrichten jeglicher Couleur wäre es sich auch ein sinnvolles, hilfreiches Eingeständnis, dass das Weltgeschehen kompliziert, komplex und maximal undurchsichtig ist. Niemand hat absoluten Einfluss auf das, was geschieht und niemand ist im Besitz der vollumfänglichen Wahrheit - und somit kann auch niemand eine Lösung bieten. Im Grunde basiert alles, was wir, Parteien, Kanzler und Präsidenten tun auf einem Prinzip: Try&Error. Aber: Geschichte lehrt uns, was sicher funktioniert und was ganz sicher nicht. Nationalsozialismus hat nachweislich nicht funktioniert. Hass auf bestimmte Bevölkerungsgruppen ist weder ein Problem noch eine Lösung, sondern einfach nur degeneriert und schwachsinnig - eine Neigung, die wir eigentlich im Angesicht der Menschheitsgeschichte überwunden haben sollten. Demokratie funktioniert, ist jedoch anstrengend. Gut informiert zu sein funktioniert auch - ist allerdings auch anstrengend. In einem Zeitalter zu leben, in dem jeder Informationslieferant und Propagandist sein kann wird vermutlich in einigen Jahren oder Jahrzehnten zu den Ideen gehören, die sicher nicht gut funktioniert haben. Dazu müssen wir jedoch den Krieg der Desinformationsgläubigen erst beendet haben. Noch sind wir mittendrin. Meine wirksamen Waffen: Medienkonsum reduzieren und manchmal ganz abschalten, um wieder klar im Kopf zu werden, bevor er platzt. Den Kriegsschauplatz der Information und Desinformation betritt jeder selbst und jeder kann ihn auch selbstständig verlassen. Stell dir vor, es ist Informationskrieg und keiner ist online.


17.02.25
©Daniel Nuber
Daniel Nuber, geboren 1990, Fachwirt im Gesundheits- und Sozialwesen, ist mitverantwortlich für das operative Tagesgeschäft einer der größten Intensivstationen in Bayern. Privat gilt seine Leidenschaft der Politik, der Geschichte und dem Reisen.

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Kommentare
  • Cornelia Weeke
    26.02.2025 10:22
    Ein sehr guter Artikel. Das Gute ist jeder hat die Möglichkeit sich umfassend zu informieren und sich aus kontroversen Meinungen eine eigene zu bilden.
    Ich will meine Meinung selbst immer wieder hinterfragen und durch neue Informationen ergänzen . Bilder brauche ich dafür nicht . Dazu reicht meine Vorstellungskraft aus .
  • Konstantin
    17.02.2025 16:48
    Ein spannender und treffender Blickwinkel! Medien prägen unser Denken und Handeln heute mehr denn je – fast wie eine moderne Glaubenswelt. Ein kluger und relevanter Ansatz.
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