MYTHOS GEBURT
Das Kind, das geboren wurde in Bethlehem, ist längst wieder gestorben. Schon nach knapp dreißig Jahren wurde es hingerichtet, doch darüber denken wir nicht gerne nach. Ein Außenstehender könnte daher das christliche Treiben um die Geburt Jesu als ignorant abtun. Ohnehin neigen wir zu einer seltsamen Fixierung auf Geburtstage, selbst nach dem Ableben des Betreffenden. Müßte Weihnachten da nicht eigentlich längst der Aufklärung des rationalen Menschen zum Opfer fallen? Durchaus, reduzierte man es auf den historischen Gehalt. Wenn da nicht unter der Oberfläche des weihnachtlichen Trubels und der Folklore etwas Anrührendes wäre, ein Gedanke oder eine Empfindung, die unser Herz berührt und Ahnungen auslöst. Es ist der Mythos, das archetypische Geschehen der Geburt.
von Dr. Dr. Andreas Bell
von Dr. Dr. Andreas Bell
Unsere Geburt ist ein Ereignis, das ganz sicher in unserem Leben stattfand, aber weder Erinnerungen noch Bilder hinterlassen hat. Ein blutiges und gewaltsames Geschehen, an das wir uns vielleicht gar nicht erinnern möchten. Bestimmt flossen Tränen zu unserer Geburt, sei es wegen des Schmerzes oder wegen der übergroßen Freude. Möglich, daß der Vater dabei- stand, aber bestenfalls hilflos angesichts des Erschütternden, das er vielleicht noch nicht kannte. Dabei mußte er in den zurückliegenden Monaten in aller Vorfreude doch ständig unter der passiven Rolle des Zuschauers leiden. In der Zeugung hat er sein Erbgut in die Mutter gesenkt, die es mit dem ihren vereinigte und mit ihrem Fleisch und Blut umschloß. Doch dann wurde er zum Außenseiter des inwendigen Geschehens. Wenn nicht die Mutter schon ihrem Kind in der Zeit, da sie es unter ihrem Herzen trug, das innere Bild des Vaters gezeigt hätte, das Kind wäre sein Leben lang allein, vaterlos. So erinnert es sich, kaum daß es die Mutter verlassen hat, ganz allmählich an ihn, dessen Erbe und inneres Bild es trägt und den es jetzt langsam mit den eigenen Augen sieht.
Auch die Zeugen der Geburt können sich der Wucht des Geschehens nicht entziehen. In ihrer Sprachlosigkeit finden sie religiöse Worte, sofern sie diese Sprache nicht längst vergessen haben. Sie sagen ,,guter Hoffnung" und vielleicht ,,gesegneten Leibes", sie sprechen von ,,Empfängnis" und ,,Niederkunft". Es ist ihnen zumute wie Zeugen eines geheimen Geschehens, das erhaben ist und sie adelt, weil sie dabei waren.
Kaum jemand macht sich klar in diesem Augenblick, daß etwas Bleibendes geschaffen wird. Die Geburt ist vielleicht der einzige völlig unwiderrufliche Akt im Leben des neugeborenen Menschen. Ein Fenster öffnet sich, für ganz kurze Zeit, zu einem verbotenen Land, und hindurch tritt ein Mensch, ein Bote der jenseitigen, geheimnisvollen Welt. Und für einen winzigen Augenblick glauben wir einen Blick zu erhaschen in diese Welt, bevor sich das Fenster wieder schließt und der neue Mensch einer von uns wird. Niemand denkt daran, daß sich dieses Fenster nur noch ein einziges Mal öffnen wird, nämlich am Ende seines Sterbens.
Väter brauchen eine Weile, um zu begreifen, daß dieses Kind ihr eigenes ist. Sie können sich nicht vorstellen, ein Kind in ihrem Inneren zu bilden, wachsen zu lassen und zu gebären. Wenn sie nicht eine solche Angst verspürten vor dem, was da ohne ihr Zutun geschieht, würden sie von tiefem Neid erfüllt. Die Sache der Männer sind die Kopfgeburten. Ihre Zeugung ist der Einfall, ihre Schwangerschaft die Planung und die Geburt das ekstatische Schaffen. Vielleicht ist manch männliche Großtat nur verzweifeltes Nachahmen des ihnen nicht Geschenkten.
Aber auch Frauen gebären mit dem Kopf. Selten, wenn sie leibliche Kinder zur Welt bringen; oft statt dessen. Sei es, daß ihnen die Biologie das Gebären verbietet oder ein eigener Lebensplan. Oder weil ihre leiblichen Kinder groß sind und ihr Körper nun zeigt, daß eine neue Zeit anbricht. Nicht durch Zufall stehen die erfolgreichen Frauen des öffentlichen Lebens fast alle in dem Lebensalter, in dem sie es aufgegeben haben, dem Leben noch ein biologisches Kind abzutrotzen. Statt dessen beginnen sie, innere Kinder auszutragen. Göttliche Kinder entstehen in ihrem Unbewußten, seelisch-geistige Kinder, die viel Umfassenderes bedeuten, als ein physisches Kind es jemals vermochte: Möglich, daß eine schöpferische Gabe ausgelebt wird und Früchte trägt, etwa eine Lebensaufgabe in der sozialen, politischen oder geistigen Welt. Die Frau erneuert sich dann in dem inneren Kind und lernt, sich selbst wiederzugebären.
Wenn der im Alter gereifte Mensch sich selbst als zeugend und gebärend erfährt, setzt diese Reifung eine neue Liebesfähigkeit frei. Zugleich eine große Liebessehnsucht, die frei jeder Projektion wirklich den anderen meint. Kinder aus Fleisch und Blut können mißraten
sein, das innere Kind aber ist göttlich.
Weihnachten ist das Fest der Geburt. Wir zelebrieren das geheimnisvolle Geschehen und legen Goldglanz darüber. Das Kind der Weihnachtsgeburt ist aber keines aus Fleisch und Blut. Es weint nicht, muß nicht gestillt werden. Es ist ein göttliches Kind. Eine Kopfgeburt, besser gesagt eine Geburt des Mundes. Denn Gottes Wort ist das Kind. Statt daß wir es trösten und herzen müssen, macht es uns selber froh. Wir legen unseren Kopf in seinen Schoß und geben uns ihm in unseren Herzen hin. In seiner Geburt werden wir selber wiedergeboren. Jesu Geburt ist nur der äußere Anlaß für das Weihnachtsfest. Der Grund für das weihnachtliche Geschehen ist die Erscheinung Christi in dieser Welt. Der völlig jenseitige Gott, der transzendente Schöpfer des Universums, läßt seine Jenseitigkeit zurück und erscheint als gewöhnlicher Mensch, um sich eine Stimme zu verschaffen. Seine Botschaft ist das eigentliche, wahre Kind, dessen Ankunft in der Welt wir feiern. Die Botschaft unserer königlichen Abkunft, unserer eigentlichen Bedeutung, die Botschaft unseres unsichtbaren, aber alles bestimmenden Wertes.
Im Blick auf das entzückende Neugeborene mit dem erwachsenen Gestus und der überirdischen Gloriole bringen wir selber Kinder zur Welt. Wer die Botschaft weitersagt, wird Mutter. Der Vater steht dabei. Denn er hat das Kind gezeugt, vor Beginn der Zeiten.
24.12.2025
von Dr. Dr. Andreas Bell
Studium der Chemie, Philosophie und Theologie, Tätigkeiten in der Sportmedizin und der Medizinethik, Lehraufträge für Medizin- und Wirtschaftsethik, psychoanalytische Ausbildung und Niederlassung als Psychotherapeut, Diakon, lebt und stirbt irgendwann in Köln.
HIER GEHTS ZUM NEUEN BUCH
Auch die Zeugen der Geburt können sich der Wucht des Geschehens nicht entziehen. In ihrer Sprachlosigkeit finden sie religiöse Worte, sofern sie diese Sprache nicht längst vergessen haben. Sie sagen ,,guter Hoffnung" und vielleicht ,,gesegneten Leibes", sie sprechen von ,,Empfängnis" und ,,Niederkunft". Es ist ihnen zumute wie Zeugen eines geheimen Geschehens, das erhaben ist und sie adelt, weil sie dabei waren.
Kaum jemand macht sich klar in diesem Augenblick, daß etwas Bleibendes geschaffen wird. Die Geburt ist vielleicht der einzige völlig unwiderrufliche Akt im Leben des neugeborenen Menschen. Ein Fenster öffnet sich, für ganz kurze Zeit, zu einem verbotenen Land, und hindurch tritt ein Mensch, ein Bote der jenseitigen, geheimnisvollen Welt. Und für einen winzigen Augenblick glauben wir einen Blick zu erhaschen in diese Welt, bevor sich das Fenster wieder schließt und der neue Mensch einer von uns wird. Niemand denkt daran, daß sich dieses Fenster nur noch ein einziges Mal öffnen wird, nämlich am Ende seines Sterbens.
Väter brauchen eine Weile, um zu begreifen, daß dieses Kind ihr eigenes ist. Sie können sich nicht vorstellen, ein Kind in ihrem Inneren zu bilden, wachsen zu lassen und zu gebären. Wenn sie nicht eine solche Angst verspürten vor dem, was da ohne ihr Zutun geschieht, würden sie von tiefem Neid erfüllt. Die Sache der Männer sind die Kopfgeburten. Ihre Zeugung ist der Einfall, ihre Schwangerschaft die Planung und die Geburt das ekstatische Schaffen. Vielleicht ist manch männliche Großtat nur verzweifeltes Nachahmen des ihnen nicht Geschenkten.
Aber auch Frauen gebären mit dem Kopf. Selten, wenn sie leibliche Kinder zur Welt bringen; oft statt dessen. Sei es, daß ihnen die Biologie das Gebären verbietet oder ein eigener Lebensplan. Oder weil ihre leiblichen Kinder groß sind und ihr Körper nun zeigt, daß eine neue Zeit anbricht. Nicht durch Zufall stehen die erfolgreichen Frauen des öffentlichen Lebens fast alle in dem Lebensalter, in dem sie es aufgegeben haben, dem Leben noch ein biologisches Kind abzutrotzen. Statt dessen beginnen sie, innere Kinder auszutragen. Göttliche Kinder entstehen in ihrem Unbewußten, seelisch-geistige Kinder, die viel Umfassenderes bedeuten, als ein physisches Kind es jemals vermochte: Möglich, daß eine schöpferische Gabe ausgelebt wird und Früchte trägt, etwa eine Lebensaufgabe in der sozialen, politischen oder geistigen Welt. Die Frau erneuert sich dann in dem inneren Kind und lernt, sich selbst wiederzugebären.
Wenn der im Alter gereifte Mensch sich selbst als zeugend und gebärend erfährt, setzt diese Reifung eine neue Liebesfähigkeit frei. Zugleich eine große Liebessehnsucht, die frei jeder Projektion wirklich den anderen meint. Kinder aus Fleisch und Blut können mißraten
sein, das innere Kind aber ist göttlich.
Weihnachten ist das Fest der Geburt. Wir zelebrieren das geheimnisvolle Geschehen und legen Goldglanz darüber. Das Kind der Weihnachtsgeburt ist aber keines aus Fleisch und Blut. Es weint nicht, muß nicht gestillt werden. Es ist ein göttliches Kind. Eine Kopfgeburt, besser gesagt eine Geburt des Mundes. Denn Gottes Wort ist das Kind. Statt daß wir es trösten und herzen müssen, macht es uns selber froh. Wir legen unseren Kopf in seinen Schoß und geben uns ihm in unseren Herzen hin. In seiner Geburt werden wir selber wiedergeboren. Jesu Geburt ist nur der äußere Anlaß für das Weihnachtsfest. Der Grund für das weihnachtliche Geschehen ist die Erscheinung Christi in dieser Welt. Der völlig jenseitige Gott, der transzendente Schöpfer des Universums, läßt seine Jenseitigkeit zurück und erscheint als gewöhnlicher Mensch, um sich eine Stimme zu verschaffen. Seine Botschaft ist das eigentliche, wahre Kind, dessen Ankunft in der Welt wir feiern. Die Botschaft unserer königlichen Abkunft, unserer eigentlichen Bedeutung, die Botschaft unseres unsichtbaren, aber alles bestimmenden Wertes.
Im Blick auf das entzückende Neugeborene mit dem erwachsenen Gestus und der überirdischen Gloriole bringen wir selber Kinder zur Welt. Wer die Botschaft weitersagt, wird Mutter. Der Vater steht dabei. Denn er hat das Kind gezeugt, vor Beginn der Zeiten.
24.12.2025
von Dr. Dr. Andreas Bell
Studium der Chemie, Philosophie und Theologie, Tätigkeiten in der Sportmedizin und der Medizinethik, Lehraufträge für Medizin- und Wirtschaftsethik, psychoanalytische Ausbildung und Niederlassung als Psychotherapeut, Diakon, lebt und stirbt irgendwann in Köln.
HIER GEHTS ZUM NEUEN BUCH
Schreibe einen Kommentar
Seite teilen
