Nichts Neues vom Monster
Monate nach dem eigentlichen Skandal veröffentlicht der NDR eine halbstündige Dokumentation über den #MeToo-Skandal um Rammstein und die Vorwürfe gegen Till Lindemann. Neue Erkenntnisse sucht man darin vergebens. Stattdessen ist frappant, was der NDR in dieser Doku nicht erwähnt.
Von Bent-Erik Scholz
Von Bent-Erik Scholz
Es begann am 23. Mai 2023 um 3:54 Uhr und 50 Sekunden. Mit dem Titel ,,Fuck Rammstein" erscheint auf Reddit ein Posting von Shelby Lynn, das Bilder von blauen Flecken und Schilderungen von Gedächtnislücken und einem sexuellen Annäherungsversuch durch Till Lindemann beim Rammstein-Konzert in Vilnius enthält. (Bild 1)
Der Vorwurf: Shelby Lynn sei unter Drogen gesetzt und Till Lindemann zugeführt worden, damit dieser während einer Konzertpause unter der Bühne mit ihr schlafen könnte. Shelby postet einen aufgebrachten, entrüsteten Text im Rammstein-Forum auf der Social-Media-Seite, antwortet auf Kommentare und interagiert mit anderen Nutzern. Der Thread explodiert: binnen weniger Stunden gibt es hunderte Kommentare, nicht wenige fordern Shelby dazu auf, sofort die Behörden zu kontaktieren. Zur Polizei, schreibt sie damals, wolle sie erst später gehen: Sie wolle warten, bis ihre Mutter am nächsten Morgen aufwache, bevor sie Anzeige erstatte. Sie sei besorgt, bei der Behörde wäre niemand der englischen Sprache mächtig. Auf Reddit jedoch ist sie sehr aktiv. Das Rammstein-Konzert in Vilnius ist zu diesem Zeitpunkt seit etwa fünf Stunden vorbei.
Von diesem tatsächlichen Urknall des Rammstein-Skandals erfahren Zuschauer der neuen Dokumentation ,,Rammstein - Die Reihe Null" jedoch nichts. Hier wird als erste öffentliche Äußerung Shelbys zu dem Thema ein Twitter-Post zitiert, drei Tage nach dem Konzert. Dass Shelby sich schon Stunden nach der mutmaßlichen Tat ausführlich online zum angeblichen Tathergang äußerte, wird nicht mit einem Wort erwähnt, obwohl dies mit Sicherheit von Bedeutung für das Verständnis des Falls wäre. Die Macher der Doku waren über diesen Umstand auch bestens informiert: Daniel Drepper, einer der beteiligten Reporter, stand im Bezug auf Shelbys Reddit-Posts im Austausch per Chat mit einem der Administratoren des Rammstein-Forums auf Reddit.
Was auch keine Erwähnung findet, ist ein Bericht einer litauischen Lokalzeitung (Link 1), in der eine Sprecherin der Polizei von Vilnius zitiert wird: die Polizei sei am 23. Mai gerufen worden, Shelby habe den Beamten jedoch mitgeteilt, sie hätte keine Angaben zu machen. Es wurde zu diesem Zeitpunkt auch keine Anzeige erstattet. Da hatte Shelby auf Reddit schon zahlreiche Kommentare veröffentlicht, hatte dort angegeben, ,,alles dokumentiert" zu haben (Bild 2), jedoch noch gar nicht auf die Idee gekommen zu sein, im Krankenhaus vorstellig zu werden (Bild 3). Also: Einerseits will Shelby möglichst viele Beweise sammeln, geht andererseits nicht zuerst zur Polizei oder ins Krankenhaus, kommt nicht einmal auf diese Idee, sondern wendet sich zuerst ans Internet. Dort bewegte sie sich keinesfalls anonym: auf ihren Accounts waren ihr Gesicht sowie ihr Name für alle Betrachter sichtbar. Das oft gehörte Argument, Opfer sexueller Übergriffe fürchteten sich vor der Kontaktaufnahme mit den Behörden, da sie dadurch erkennbar würden, kann hier also nur bedingt angewandt werden. Dieser Umstand ist mindestens bemerkenswert, in der Doku jedoch findet er schlichtweg nicht statt.
Sowieso bringt die groß angekündigte halbstündige Sondersendung des Investigativmagazins Panorama keine neuen Erkenntnisse. Größere Blöcke der Sendung bestehen aus einem Interview mit Shelby Lynn. Dieses jedoch ist über ein halbes Jahr alt: es wurde am 8. Juni 2023 von der BBC veröffentlicht. (Link 2) Einen Hinweis auf das ursprüngliche Ausstrahlungsdatum sowie auf die eigentliche Quelle, nämlich den britischen Fernsehsender, sucht man vergebens. Der einzige Hinweis findet sich im ersten Satz der Doku: ,,Die Nordirin Shelby Lynn, zwei Wochen nach dem Rammstein-Konzert, das ihr Leben verändert hat." Für den durchschnittlichen Betrachter der Doku muss dieses Gespräch mit der Hauptbeschuldigerin jedoch zwangsläufig deutlich gegenwärtiger wirken, schließlich bauen große Teile dieser neuen Dokumentation darauf auf. Um festzustellen, dass man hier kalten Kaffee eingeschenkt bekommt, muss der Durchschnittszuschauer hierbei wohl vor allem auf die Haarfarbe der Protagonistin achten: Im Interview noch schwarz mit der roten Strähne im Pony, auf aktuellen Bildern komplett rot.
Ich erinnere mich gut an die ersten Tage dieses Skandals, den ich über das Internet so hautnah, wie es Shelbys Posting-Frequenz zuließ, verfolgte. Am 24. Mai, noch vor Shelbys erstem Twitter-Posting, schrieb ich ihr eine Instagram-Nachricht, in der auch ich sie dringend bat, so schnell wie möglich die Polizei zu kontaktieren (Bild 4). Die scheinbare Grausamkeit, mit der hier angeblich vorgegangen wurde, schockierte mich zutiefst.
Dabei war die so genannte ,,Row Zero" spätestens seit Februar 2020 kein Geheimnis mehr: Seinerzeit ging Till Lindemann mit seinem Nebenprojekt, der Band LINDEMANN, die er gemeinsam mit dem schwedischen Metal-Musiker Peter Tägtgren gegründet hatte, auf Europatournee. Am Ende der Konzerte zeigte er wiederum ein Backstage-Video einer Rammstein-Show, das ihn während der mittlerweile berüchtigten Konzertpause in der heute so getauften ,,Suckbox" mit zwei Frauen, mutmaßlich Groupies, beim Sex zeigt. Fünf Minuten dauert das instrumentale DJ-Set, während welchem Lindemann sich unter der Bühne befindet. In dieser Zeit lässt er sich von den Frauen oral befriedigen, penetriert sie, zieht sich die Hose wieder hoch und kehrt auf die Bühne zurück, um den Song ,,Deutschland" anzustimmen. Abgefilmt wird das Procedere im Stil eines Stummfilms, die Wiedergabegeschwindigkeit wird erhöht, Filmkörnung und Schwarz-Weiß-Effekte werden über die durch die Beschleunigung lächerlich wirkenden Aufnahmen gelegt, dazu spielt alberne Klaviermusik. Das Livepublikum beim Lindemann-Konzert klatscht im Takt mit, während es den Penis des damals schon stramm auf die 60 zugehenden Sängers übergroß auf der Leinwand bestaunen darf.
Schon damals war die Reaktion innerhalb der Fan-Community sehr gespalten. Gespräche über das so genannte ,,Groupie-System", die Row Zero, gab es spätestens ab diesem Zeitpunkt regelmäßig. Dass Till Lindemann mithilfe von speziell dafür engagierten Casting-Directors junge Frauen, die einem speziellen Typus entsprach zu Aftershow-Partys einlud, um mit ihnen Sex zu haben. War dieses Video, welches live während eines Konzerts gezeigt wurde, nur provokant oder schon geschmacklos? Und ist es nicht ziemlich erbärmlich, wenn ein alternder Rockstar sich inbrünstig in das muffig-machohafte Klischee des ,,Sex, Drugs, Rock'n'Roll" stürzt und sich damit vor seinen Fans offenbar auch noch brüstet? Die Vorstellung, dass ein sechzig Jahre alter Mann eigene Mitarbeiter dafür beschäftigt, dass sie ihm regelmäßig Frauen Anfang zwanzig vor die Flinte legen, ist lächerlich und traurig. Sympathisch macht dieses absurde Gebaren den Rammstein-Sänger nicht. Aber ist es illegal?
Es ist das Comeback eines altbekannten Problembären, über den die öffentliche Debatte bisher nur sehr halbherzig und von Vorbehalten und Vorurteilen belegt geführt wurde: die sexuelle Dynamik zwischen Star und Fan, die Groupie-Kultur, die seit über fünfzig Jahren fester Bestandteil insbesondere der Musikindustrie ist. Iggy Pop sang 1996 die Zeilen ,,I slept with Sable when she was 13 / Her parents were too rich to do anything", und bezog sich dabei auf Sable Starr, die in den Siebzigerjahren Szenebekanntheit als minderjähriges Groupie von Musikern wie David Bowie oder Rod Stewart erlangte. Der Aerosmith-Sänger Steven Tyler erlangte in den 70er-Jahren mit elterlicher Erlaubnis die Vormundschaft über die damals sechzehnjährige Julia Holcomb, sodass er diese über die Grenzen der US-Bundesstaaten mit auf Tournee nehmen konnte. Dagegen wirken die Vorwürfe gegen Rammstein, die in der Dokumentation aufgegriffen werden, nahezu zahnlos.
Was wird hier beschrieben? Der NDR interviewt Anna Yakina, die als russische Musikmanagerin vorgestellt wird, welche unter anderem das Nebenprojekt ,,Lindemann" auf Tour begleitete. Sie schildert, wie Fans in die Garderobe von Till Lindemann geführt wurden, der dann die Tür hinter sich abschloss. Dies sei ihr merkwürdig vorgekommen. Was der NDR nicht berichtet: Anna Yakina ist nicht einfach irgendeine zufällig dahergelaufene Augenzeugin, sondern war aus einem ganz bestimmten Grund auf der Lindemann-Tour 2020 dabei. Sie ist die Partnerin von Peter Tägtgren, der das Projekt gemeinsam mit Till Lindemann anführte. (Bild 5) Die beiden Künstler lösten im Jahr 2020 ihre Zusammenarbeit auf. Hier wird also die Partnerin des ehemaligen Bandkollegen, der sich mit dem Protagonisten offenbar überworfen hat, interviewt, ohne dass auf diese Beziehung hingewiesen wird.
Unabhängig davon jedoch ist das, was sie schildert, vielleicht unsympathisch, aber in keiner Weise juristisch von Belang. Shelby Lynn konnte den Vorwurf, man habe sie unter Drogen gesetzt, nie erhärten, gab aber wiederholt zu Protokoll, Lindemann habe sie nie angefasst, als sie Sex mit ihm ablehnte. Andere Frauen beschrieben die sexuelle Erfahrung mit Lindemann im Nachhinein als unangenehm, gaben jedoch auch an, dass der Sex einvernehmlich gewesen sei.
Eine Interviewpartnerin sagt den Satz ,,Es war auch keine Situation, in der ich hätte Nein sagen können". Dieser Satz bleibt unkommentiert, dabei ist fraglich, wie das gemeint ist. Handelte es sich hierbei um ein Gefühl oder eine Tatsache? Woran machte sie fest, nicht Nein sagen zu können? Shelby Lynn konnte es angeblich trotz mutmaßlichen Drogeneinflusses, und ihr geschah nichts. Kayla Shyx schilderte, dass sie die Aftershow-Party ohne Probleme vorzeitig verließ, als die Situation ihr merkwürdig schien.
Von der Lindemann-Tour 2020 gibt es ebenfalls eine Schilderung der Sängerin Jadu Laciny, die nicht im Verdacht steht, antifeministische Kampagnen anzuführen: Jadu begleitete die Tournee eineinhalb Monate lang als Support Act. Was sie beschreibt, ist im Vergleich zur Aussage der Frau des verflossenen Kreativpartners diametral unterschiedlich: die Türen hätten jederzeit offen gestanden, Lindemann und seine Entourage seien ,,respektvoll, höflich und umsichtig mit den Menschen umgegangen". Wohl gemerkt: Jadu Laciny und Anna Yanika beschreiben jeweils dieselbe Konzerttournee. (Bild 6 & 7)
Auch hiervon: kein Wort in der NDR-Dokumentation, obwohl die Panorama-Redaktion, die den Halbstünder produzierte, zweifelsohne über diese Statements und Zusammenhänge bestens unterrichtet war. Wäre es nicht Aufgabe eines investigativen Recherche-Teams, auch solche Widersprüche offen zu kommunizieren? Warum geschieht dies nicht? Wäre keine Zeit dafür gewesen, dies in der Doku zu erzählen? Sollte Zeitnot die Begründung für das Weglassen solcher relevanten Bemerkungen sein, so hätte ich dem NDR einen Vorschlag zu machen: as eine oder andere an O-Ton-Material von Rammstein-Fans hätte man sich sparen können.
Hier nämlich entsteht das Gefühl, dass die Auswahl der Fans, die in der Doku zu Wort kommen dürfen, auf ein spezifisches, klischeehaftestes Bild vom gemeinen Rammstein-Fan fußt. Weitestgehend desinteressierte bis dismissive Männer, mindestens einer davon offensichtlich geistig eingeschränkt, dürfen als Repräsentanten für eine sowieso grobschlächtige, primitive, deutschtümelnde Hörergemeinschaft der bösen Teutonen-Band.
Die Aufnahmen von Fan-Interviews fanden vor den Konzerten im Berliner Olympiastadion statt. Auch ich habe eine Reporterin des RBB zu einem Dreh am Olympiastadion begleitet. (Bild 8)
Das Bild, was sich mir dort von den Besuchern bot, unterscheidet sich von dem, was ich in der Doku sehe. Vor Ort nämlich begegneten mir vor allem sehr nachdenkliche Männer, die glaubhaft ihr moralisches Hadern zum Ausdruck brachten. Darunter auch jüngere, auch viele queere Menschen. Ein Gesprächsgast, der sich als Till Lindemann verkleidet hatte, blieb mir nachdrücklich in Erinnerung. Auf die Demonstration, die einige hundert Meter weiter stattfand, angesprochen, brachte er sein Verständnis, ja sogar seine Unterstützung für die dort Protestierenden zum Ausdruck. Er verstand, dass seine Lieblingsband zum Symbol einer durchaus relevanten Debatte wird. Tatsächlich erlebte ich abtuende, verharmlosende Kommentare zur Causa Lindemann eher seitens der weiblichen Konzertbesucher.
Natürlich ist das anekdotische Evidenz, dem NDR mögen einfach andere Leute begegnet sein, und ich will nicht behaupten, dass es unter den Zehntausenden Besuchern nicht auch eine Menge trotziger, potenziell reaktionärer Machos gegeben hat, die das alles für eine Verschwörung gegen ihre Lieblingsband halten. Denn an eine solche Verschwörung glaube ich auch nicht, im Gegenteil, ich hielte es für völlig illusorisch, davon auszugehen.
Innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich die öffentliche Wahrnehmung Rammsteins deutlich gewandelt. Die deutsche Medienöffentlichkeit hat der Band endlich verziehen, dass sie der erfolgreichste Kulturexport des Jahrtausends geworden ist. Dass die Musik nicht nur auf ihre Stumpfheit und Primitivität zu reduzieren ist, sondern der Prüfung auf einen doppelten Boden durchaus standzuhalten weiß, mussten Kulturredakteure landauf, landab spätestens durch den künstlich generierten Skandal um das Musikvideo zu ,,Deutschland" lernen, als die inländische Medienöffentlichkeit mutwillig in die Falle hineinrannte, die die Band ihnen gegraben hatte. Es kam zu einem Ausnahmezustand im deutschen Feuilleton: gewisse Protagonisten sahen sich gezwungen, offen einen Irrtum einzugestehen. Rammstein waren zuletzt weniger die Unliebsamen, Unbequemen, de Wahrheitssager im Sinne der AfD'schen Robin-Hood-Romantik. Sie waren im Gegenteil viel eher Everybody's darling. Mit renommierten Musikpreisen dotiert, von Kulturjournalisten mit Wohlwollen betrachtet, Teil des Mainstreams mit Filmpremieren in der Volksbühne, eigenen Sendungen im öffentlich-rechtlichen Radio, und populären Buchveröffentlichungen in renommierten Verlagen. Nach Aktionen wie dem Schwenken der Regenbogenflagge während eines Konzerts in Polen konnte man der Band sogar ein progressives Image attestieren.
Meine Vermutung ist, dass es um gänzlich andere Impulse geht: um das Einreißen von Ikonen in einem Kulturkampf ,,alt gegen jung". Dies ist prinzipiell kein neues Phänomen. Dass die alten Denkmäler zerschlagen werden, um neue Vorbilder und Galionsfiguren zu schaffen, war schon immer Teil der gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung. Der Unterschied jedoch ist die Methodik, die sich durch technischen Fortschritt radikalisiert hat. Dadurch, dass sie dem Einzelnen das Potenzial bietet, enorme Macht zu erlangen, wird die Unantastbarkeit der Ikone schrittweise unterminiert. So ist es heute nicht mehr undenkbar, dass Werke ihrer Zeit abgeändert werden, um einem neuen Zeitgeist angepasst zu werden. Bisher werden diese Debatten nahezu ausschließlich zu Kinderbüchern geführt, aus denen veraltetes Vokabular getilgt werden soll. Dieser Mut zum Revisionismus degradiert diese Bücher zu Gebrauchsliteratur, die sich dem Publikum zu fügen haben. Das Neue soll das Alte nicht mehr nur ablösen, sondern ersetzen oder gar verschlucken. Es ist die Lust daran, den König zu stürzen, derselbe Impuls, der Royalisten an den Unwirren der Beziehungen im Britischen Königshaus fasziniert. Es ist Klatsch und Tratsch, Schadenfreude mit extremeren Mitteln.
Doch auch etwas anderes ist nicht gänzlich unerheblich. Stellen wir uns die Frage: Wozu wird die Geschichte um Till Lindemann neu aufgebrüht, wo die juristischen Tatsachen längst bekannt sind und sich praktisch seit Herbst 2023 keine neuen Erkenntnisse ergeben haben? Die Recherchedauer kann es nicht sein, da ja alle aufgegriffenen Informationen öffentlich schon lange zugänglich waren. Vielmehr wirkt es so, als ginge es darum, den Fall wieder ins Gedächtnis zu rufen. Aber wozu sollte man das tun? Die anstehende Rammstein-Konzerttournee kann dafür nicht der Grund sein, es bringt dem NDR ja nichts, wenn für diese Konzerte weniger Karten verkauft werden. Warum also sollen wir uns sonst gerade jetzt an Till Lindemann erinnern?
Ich möchte nichts unterstellen, ich kenne die Beteiligten nicht und habe nur äußerst oberflächliche Einsicht in die Prozesse hinter der Aufarbeitung dieses Skandals. Doch es ist bemerkenswert, dass Daniel Drepper, der diese Recherche seit Beginn betreute und auch maßgeblich an der neuen NDR-Doku beteiligt war, in wenigen Wochen ein Buch herausbringt: ,,Row Zero - Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie" soll Ende Mai erscheinen. Und natürlich kann das ein glücklicher Zufall sein, dennoch: Daniel Drepper wird sicher nicht unglücklich darüber sein, dass kurz vor seiner Buchveröffentlichung ausgerechnet seine eigene Dokumentation zum Thema seines Buches auf einem prominenten Sendeplatz im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gelaufen ist.
27.03.24
*Bent-Erik Scholz arbeitet als freier Mitarbeiter für den RBB
Der Vorwurf: Shelby Lynn sei unter Drogen gesetzt und Till Lindemann zugeführt worden, damit dieser während einer Konzertpause unter der Bühne mit ihr schlafen könnte. Shelby postet einen aufgebrachten, entrüsteten Text im Rammstein-Forum auf der Social-Media-Seite, antwortet auf Kommentare und interagiert mit anderen Nutzern. Der Thread explodiert: binnen weniger Stunden gibt es hunderte Kommentare, nicht wenige fordern Shelby dazu auf, sofort die Behörden zu kontaktieren. Zur Polizei, schreibt sie damals, wolle sie erst später gehen: Sie wolle warten, bis ihre Mutter am nächsten Morgen aufwache, bevor sie Anzeige erstatte. Sie sei besorgt, bei der Behörde wäre niemand der englischen Sprache mächtig. Auf Reddit jedoch ist sie sehr aktiv. Das Rammstein-Konzert in Vilnius ist zu diesem Zeitpunkt seit etwa fünf Stunden vorbei.
Von diesem tatsächlichen Urknall des Rammstein-Skandals erfahren Zuschauer der neuen Dokumentation ,,Rammstein - Die Reihe Null" jedoch nichts. Hier wird als erste öffentliche Äußerung Shelbys zu dem Thema ein Twitter-Post zitiert, drei Tage nach dem Konzert. Dass Shelby sich schon Stunden nach der mutmaßlichen Tat ausführlich online zum angeblichen Tathergang äußerte, wird nicht mit einem Wort erwähnt, obwohl dies mit Sicherheit von Bedeutung für das Verständnis des Falls wäre. Die Macher der Doku waren über diesen Umstand auch bestens informiert: Daniel Drepper, einer der beteiligten Reporter, stand im Bezug auf Shelbys Reddit-Posts im Austausch per Chat mit einem der Administratoren des Rammstein-Forums auf Reddit.
Was auch keine Erwähnung findet, ist ein Bericht einer litauischen Lokalzeitung (Link 1), in der eine Sprecherin der Polizei von Vilnius zitiert wird: die Polizei sei am 23. Mai gerufen worden, Shelby habe den Beamten jedoch mitgeteilt, sie hätte keine Angaben zu machen. Es wurde zu diesem Zeitpunkt auch keine Anzeige erstattet. Da hatte Shelby auf Reddit schon zahlreiche Kommentare veröffentlicht, hatte dort angegeben, ,,alles dokumentiert" zu haben (Bild 2), jedoch noch gar nicht auf die Idee gekommen zu sein, im Krankenhaus vorstellig zu werden (Bild 3). Also: Einerseits will Shelby möglichst viele Beweise sammeln, geht andererseits nicht zuerst zur Polizei oder ins Krankenhaus, kommt nicht einmal auf diese Idee, sondern wendet sich zuerst ans Internet. Dort bewegte sie sich keinesfalls anonym: auf ihren Accounts waren ihr Gesicht sowie ihr Name für alle Betrachter sichtbar. Das oft gehörte Argument, Opfer sexueller Übergriffe fürchteten sich vor der Kontaktaufnahme mit den Behörden, da sie dadurch erkennbar würden, kann hier also nur bedingt angewandt werden. Dieser Umstand ist mindestens bemerkenswert, in der Doku jedoch findet er schlichtweg nicht statt.
Sowieso bringt die groß angekündigte halbstündige Sondersendung des Investigativmagazins Panorama keine neuen Erkenntnisse. Größere Blöcke der Sendung bestehen aus einem Interview mit Shelby Lynn. Dieses jedoch ist über ein halbes Jahr alt: es wurde am 8. Juni 2023 von der BBC veröffentlicht. (Link 2) Einen Hinweis auf das ursprüngliche Ausstrahlungsdatum sowie auf die eigentliche Quelle, nämlich den britischen Fernsehsender, sucht man vergebens. Der einzige Hinweis findet sich im ersten Satz der Doku: ,,Die Nordirin Shelby Lynn, zwei Wochen nach dem Rammstein-Konzert, das ihr Leben verändert hat." Für den durchschnittlichen Betrachter der Doku muss dieses Gespräch mit der Hauptbeschuldigerin jedoch zwangsläufig deutlich gegenwärtiger wirken, schließlich bauen große Teile dieser neuen Dokumentation darauf auf. Um festzustellen, dass man hier kalten Kaffee eingeschenkt bekommt, muss der Durchschnittszuschauer hierbei wohl vor allem auf die Haarfarbe der Protagonistin achten: Im Interview noch schwarz mit der roten Strähne im Pony, auf aktuellen Bildern komplett rot.
Ich erinnere mich gut an die ersten Tage dieses Skandals, den ich über das Internet so hautnah, wie es Shelbys Posting-Frequenz zuließ, verfolgte. Am 24. Mai, noch vor Shelbys erstem Twitter-Posting, schrieb ich ihr eine Instagram-Nachricht, in der auch ich sie dringend bat, so schnell wie möglich die Polizei zu kontaktieren (Bild 4). Die scheinbare Grausamkeit, mit der hier angeblich vorgegangen wurde, schockierte mich zutiefst.
Dabei war die so genannte ,,Row Zero" spätestens seit Februar 2020 kein Geheimnis mehr: Seinerzeit ging Till Lindemann mit seinem Nebenprojekt, der Band LINDEMANN, die er gemeinsam mit dem schwedischen Metal-Musiker Peter Tägtgren gegründet hatte, auf Europatournee. Am Ende der Konzerte zeigte er wiederum ein Backstage-Video einer Rammstein-Show, das ihn während der mittlerweile berüchtigten Konzertpause in der heute so getauften ,,Suckbox" mit zwei Frauen, mutmaßlich Groupies, beim Sex zeigt. Fünf Minuten dauert das instrumentale DJ-Set, während welchem Lindemann sich unter der Bühne befindet. In dieser Zeit lässt er sich von den Frauen oral befriedigen, penetriert sie, zieht sich die Hose wieder hoch und kehrt auf die Bühne zurück, um den Song ,,Deutschland" anzustimmen. Abgefilmt wird das Procedere im Stil eines Stummfilms, die Wiedergabegeschwindigkeit wird erhöht, Filmkörnung und Schwarz-Weiß-Effekte werden über die durch die Beschleunigung lächerlich wirkenden Aufnahmen gelegt, dazu spielt alberne Klaviermusik. Das Livepublikum beim Lindemann-Konzert klatscht im Takt mit, während es den Penis des damals schon stramm auf die 60 zugehenden Sängers übergroß auf der Leinwand bestaunen darf.
Schon damals war die Reaktion innerhalb der Fan-Community sehr gespalten. Gespräche über das so genannte ,,Groupie-System", die Row Zero, gab es spätestens ab diesem Zeitpunkt regelmäßig. Dass Till Lindemann mithilfe von speziell dafür engagierten Casting-Directors junge Frauen, die einem speziellen Typus entsprach zu Aftershow-Partys einlud, um mit ihnen Sex zu haben. War dieses Video, welches live während eines Konzerts gezeigt wurde, nur provokant oder schon geschmacklos? Und ist es nicht ziemlich erbärmlich, wenn ein alternder Rockstar sich inbrünstig in das muffig-machohafte Klischee des ,,Sex, Drugs, Rock'n'Roll" stürzt und sich damit vor seinen Fans offenbar auch noch brüstet? Die Vorstellung, dass ein sechzig Jahre alter Mann eigene Mitarbeiter dafür beschäftigt, dass sie ihm regelmäßig Frauen Anfang zwanzig vor die Flinte legen, ist lächerlich und traurig. Sympathisch macht dieses absurde Gebaren den Rammstein-Sänger nicht. Aber ist es illegal?
Es ist das Comeback eines altbekannten Problembären, über den die öffentliche Debatte bisher nur sehr halbherzig und von Vorbehalten und Vorurteilen belegt geführt wurde: die sexuelle Dynamik zwischen Star und Fan, die Groupie-Kultur, die seit über fünfzig Jahren fester Bestandteil insbesondere der Musikindustrie ist. Iggy Pop sang 1996 die Zeilen ,,I slept with Sable when she was 13 / Her parents were too rich to do anything", und bezog sich dabei auf Sable Starr, die in den Siebzigerjahren Szenebekanntheit als minderjähriges Groupie von Musikern wie David Bowie oder Rod Stewart erlangte. Der Aerosmith-Sänger Steven Tyler erlangte in den 70er-Jahren mit elterlicher Erlaubnis die Vormundschaft über die damals sechzehnjährige Julia Holcomb, sodass er diese über die Grenzen der US-Bundesstaaten mit auf Tournee nehmen konnte. Dagegen wirken die Vorwürfe gegen Rammstein, die in der Dokumentation aufgegriffen werden, nahezu zahnlos.
Was wird hier beschrieben? Der NDR interviewt Anna Yakina, die als russische Musikmanagerin vorgestellt wird, welche unter anderem das Nebenprojekt ,,Lindemann" auf Tour begleitete. Sie schildert, wie Fans in die Garderobe von Till Lindemann geführt wurden, der dann die Tür hinter sich abschloss. Dies sei ihr merkwürdig vorgekommen. Was der NDR nicht berichtet: Anna Yakina ist nicht einfach irgendeine zufällig dahergelaufene Augenzeugin, sondern war aus einem ganz bestimmten Grund auf der Lindemann-Tour 2020 dabei. Sie ist die Partnerin von Peter Tägtgren, der das Projekt gemeinsam mit Till Lindemann anführte. (Bild 5) Die beiden Künstler lösten im Jahr 2020 ihre Zusammenarbeit auf. Hier wird also die Partnerin des ehemaligen Bandkollegen, der sich mit dem Protagonisten offenbar überworfen hat, interviewt, ohne dass auf diese Beziehung hingewiesen wird.
Unabhängig davon jedoch ist das, was sie schildert, vielleicht unsympathisch, aber in keiner Weise juristisch von Belang. Shelby Lynn konnte den Vorwurf, man habe sie unter Drogen gesetzt, nie erhärten, gab aber wiederholt zu Protokoll, Lindemann habe sie nie angefasst, als sie Sex mit ihm ablehnte. Andere Frauen beschrieben die sexuelle Erfahrung mit Lindemann im Nachhinein als unangenehm, gaben jedoch auch an, dass der Sex einvernehmlich gewesen sei.
Eine Interviewpartnerin sagt den Satz ,,Es war auch keine Situation, in der ich hätte Nein sagen können". Dieser Satz bleibt unkommentiert, dabei ist fraglich, wie das gemeint ist. Handelte es sich hierbei um ein Gefühl oder eine Tatsache? Woran machte sie fest, nicht Nein sagen zu können? Shelby Lynn konnte es angeblich trotz mutmaßlichen Drogeneinflusses, und ihr geschah nichts. Kayla Shyx schilderte, dass sie die Aftershow-Party ohne Probleme vorzeitig verließ, als die Situation ihr merkwürdig schien.
Von der Lindemann-Tour 2020 gibt es ebenfalls eine Schilderung der Sängerin Jadu Laciny, die nicht im Verdacht steht, antifeministische Kampagnen anzuführen: Jadu begleitete die Tournee eineinhalb Monate lang als Support Act. Was sie beschreibt, ist im Vergleich zur Aussage der Frau des verflossenen Kreativpartners diametral unterschiedlich: die Türen hätten jederzeit offen gestanden, Lindemann und seine Entourage seien ,,respektvoll, höflich und umsichtig mit den Menschen umgegangen". Wohl gemerkt: Jadu Laciny und Anna Yanika beschreiben jeweils dieselbe Konzerttournee. (Bild 6 & 7)
Auch hiervon: kein Wort in der NDR-Dokumentation, obwohl die Panorama-Redaktion, die den Halbstünder produzierte, zweifelsohne über diese Statements und Zusammenhänge bestens unterrichtet war. Wäre es nicht Aufgabe eines investigativen Recherche-Teams, auch solche Widersprüche offen zu kommunizieren? Warum geschieht dies nicht? Wäre keine Zeit dafür gewesen, dies in der Doku zu erzählen? Sollte Zeitnot die Begründung für das Weglassen solcher relevanten Bemerkungen sein, so hätte ich dem NDR einen Vorschlag zu machen: as eine oder andere an O-Ton-Material von Rammstein-Fans hätte man sich sparen können.
Hier nämlich entsteht das Gefühl, dass die Auswahl der Fans, die in der Doku zu Wort kommen dürfen, auf ein spezifisches, klischeehaftestes Bild vom gemeinen Rammstein-Fan fußt. Weitestgehend desinteressierte bis dismissive Männer, mindestens einer davon offensichtlich geistig eingeschränkt, dürfen als Repräsentanten für eine sowieso grobschlächtige, primitive, deutschtümelnde Hörergemeinschaft der bösen Teutonen-Band.
Die Aufnahmen von Fan-Interviews fanden vor den Konzerten im Berliner Olympiastadion statt. Auch ich habe eine Reporterin des RBB zu einem Dreh am Olympiastadion begleitet. (Bild 8)
Das Bild, was sich mir dort von den Besuchern bot, unterscheidet sich von dem, was ich in der Doku sehe. Vor Ort nämlich begegneten mir vor allem sehr nachdenkliche Männer, die glaubhaft ihr moralisches Hadern zum Ausdruck brachten. Darunter auch jüngere, auch viele queere Menschen. Ein Gesprächsgast, der sich als Till Lindemann verkleidet hatte, blieb mir nachdrücklich in Erinnerung. Auf die Demonstration, die einige hundert Meter weiter stattfand, angesprochen, brachte er sein Verständnis, ja sogar seine Unterstützung für die dort Protestierenden zum Ausdruck. Er verstand, dass seine Lieblingsband zum Symbol einer durchaus relevanten Debatte wird. Tatsächlich erlebte ich abtuende, verharmlosende Kommentare zur Causa Lindemann eher seitens der weiblichen Konzertbesucher.
Natürlich ist das anekdotische Evidenz, dem NDR mögen einfach andere Leute begegnet sein, und ich will nicht behaupten, dass es unter den Zehntausenden Besuchern nicht auch eine Menge trotziger, potenziell reaktionärer Machos gegeben hat, die das alles für eine Verschwörung gegen ihre Lieblingsband halten. Denn an eine solche Verschwörung glaube ich auch nicht, im Gegenteil, ich hielte es für völlig illusorisch, davon auszugehen.
Innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich die öffentliche Wahrnehmung Rammsteins deutlich gewandelt. Die deutsche Medienöffentlichkeit hat der Band endlich verziehen, dass sie der erfolgreichste Kulturexport des Jahrtausends geworden ist. Dass die Musik nicht nur auf ihre Stumpfheit und Primitivität zu reduzieren ist, sondern der Prüfung auf einen doppelten Boden durchaus standzuhalten weiß, mussten Kulturredakteure landauf, landab spätestens durch den künstlich generierten Skandal um das Musikvideo zu ,,Deutschland" lernen, als die inländische Medienöffentlichkeit mutwillig in die Falle hineinrannte, die die Band ihnen gegraben hatte. Es kam zu einem Ausnahmezustand im deutschen Feuilleton: gewisse Protagonisten sahen sich gezwungen, offen einen Irrtum einzugestehen. Rammstein waren zuletzt weniger die Unliebsamen, Unbequemen, de Wahrheitssager im Sinne der AfD'schen Robin-Hood-Romantik. Sie waren im Gegenteil viel eher Everybody's darling. Mit renommierten Musikpreisen dotiert, von Kulturjournalisten mit Wohlwollen betrachtet, Teil des Mainstreams mit Filmpremieren in der Volksbühne, eigenen Sendungen im öffentlich-rechtlichen Radio, und populären Buchveröffentlichungen in renommierten Verlagen. Nach Aktionen wie dem Schwenken der Regenbogenflagge während eines Konzerts in Polen konnte man der Band sogar ein progressives Image attestieren.
Meine Vermutung ist, dass es um gänzlich andere Impulse geht: um das Einreißen von Ikonen in einem Kulturkampf ,,alt gegen jung". Dies ist prinzipiell kein neues Phänomen. Dass die alten Denkmäler zerschlagen werden, um neue Vorbilder und Galionsfiguren zu schaffen, war schon immer Teil der gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung. Der Unterschied jedoch ist die Methodik, die sich durch technischen Fortschritt radikalisiert hat. Dadurch, dass sie dem Einzelnen das Potenzial bietet, enorme Macht zu erlangen, wird die Unantastbarkeit der Ikone schrittweise unterminiert. So ist es heute nicht mehr undenkbar, dass Werke ihrer Zeit abgeändert werden, um einem neuen Zeitgeist angepasst zu werden. Bisher werden diese Debatten nahezu ausschließlich zu Kinderbüchern geführt, aus denen veraltetes Vokabular getilgt werden soll. Dieser Mut zum Revisionismus degradiert diese Bücher zu Gebrauchsliteratur, die sich dem Publikum zu fügen haben. Das Neue soll das Alte nicht mehr nur ablösen, sondern ersetzen oder gar verschlucken. Es ist die Lust daran, den König zu stürzen, derselbe Impuls, der Royalisten an den Unwirren der Beziehungen im Britischen Königshaus fasziniert. Es ist Klatsch und Tratsch, Schadenfreude mit extremeren Mitteln.
Doch auch etwas anderes ist nicht gänzlich unerheblich. Stellen wir uns die Frage: Wozu wird die Geschichte um Till Lindemann neu aufgebrüht, wo die juristischen Tatsachen längst bekannt sind und sich praktisch seit Herbst 2023 keine neuen Erkenntnisse ergeben haben? Die Recherchedauer kann es nicht sein, da ja alle aufgegriffenen Informationen öffentlich schon lange zugänglich waren. Vielmehr wirkt es so, als ginge es darum, den Fall wieder ins Gedächtnis zu rufen. Aber wozu sollte man das tun? Die anstehende Rammstein-Konzerttournee kann dafür nicht der Grund sein, es bringt dem NDR ja nichts, wenn für diese Konzerte weniger Karten verkauft werden. Warum also sollen wir uns sonst gerade jetzt an Till Lindemann erinnern?
Ich möchte nichts unterstellen, ich kenne die Beteiligten nicht und habe nur äußerst oberflächliche Einsicht in die Prozesse hinter der Aufarbeitung dieses Skandals. Doch es ist bemerkenswert, dass Daniel Drepper, der diese Recherche seit Beginn betreute und auch maßgeblich an der neuen NDR-Doku beteiligt war, in wenigen Wochen ein Buch herausbringt: ,,Row Zero - Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie" soll Ende Mai erscheinen. Und natürlich kann das ein glücklicher Zufall sein, dennoch: Daniel Drepper wird sicher nicht unglücklich darüber sein, dass kurz vor seiner Buchveröffentlichung ausgerechnet seine eigene Dokumentation zum Thema seines Buches auf einem prominenten Sendeplatz im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gelaufen ist.
27.03.24
*Bent-Erik Scholz arbeitet als freier Mitarbeiter für den RBB
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Für mich hat die Debatte über die Strafbarkeit das verhindert, was einer Aufklärung/Diskussion bedurft hätte: Das sexuelle Missverhältnis zwischen Star und Groupie sowie der Umgang mit Sexualität in diesem Kontext.
Die Vermischung von Kunst und Macht(missbrauch) ist für mich nach wie vor diskussionswürdig.
Hinzu kommt die Vermischung von inszenierten Bildern ("Till the end") und Realität in der öffentlichen Wahrnehmung, die das eigentliche Problem verzehrt und schwächer erscheinen lässt.
Für mich darf Kunst alles - solange die Mitwirkenden ein Teil davon sein wollen und die Inszenierung nicht als persönliche Befriedigung benutzt werden. Hier ziehe ich meine moralische Grenze.
Ob es sich bei plakativ dargestelltem Sex um Kunst oder vielmehr um Fetisch bzw. erfreute Männerfantasien handelt, darf diskutiert werden. Und ganz ehrlich: Wirklich wahnsinnig nachdenkenswert und wertvoll finde ich es nicht, wenn man seinen Penis durch ein Buch steckt sich oral befriedigt lässt.
Klar ist: Sexualisierung von allen, die an Kunst mitwirken zum Zwecke des Künstlers gehört für mich in den Diskurs.
Und es stimmt mich traurig, dass 2023 in der Berichterstattung über Till Lindemann da eher kontraproduktiv war.
Der Fall Cynthia war ja auch schon Teil der Reportagen in Textform. Dort wurde geschildert, dass sie aufgrund einer Endometriose Erkrankung beim S*x grundsätzlich sehr oft blutet.
Hier in der Videoreportage wird einfach nur die Info gedroppt, dass sie nach dem S*x geblutet habe. Das wirkt auf den uninformierten Zuschauer so, als wäre sie stumpf gesagt von Lindemann hart blutig gef*ckt worden. Das empfinde ich mit dem Wissen über die eigentliche Ursache für diese Blutung als eine absolute Unverschämtheit und extrem bösartiges Framing der Journalisten.
Dann bezüglich Peter Tägtgren und seiner Frau: Es wird ja nicht nur verschwiegen, dass es seine Frau ist (im Übrigen auch in dem zugehörigen Podcast der Tagesschau, wo man Hintergründe über die Recherchen erfahren sollte). Es wird ja in der Reportage auch noch extra betont, dass die Fans bei der Tanzeinlage in Unterwäsche in der Kugel mit Lindemann aufgetreten sind. Aber wer war denn noch mit in der Kugel? Ahja, Peter Tägtgren. Das wirkt schon ziemlich lächerlich, wenn man dann seine Frau in der Reportage moralisch den Zeigefinger erheben lässt.
Es ist eigentlich schon skandalös, wie diese Verbindung verschwiegen wird. Im zugehörigen Podcast wird sogar extra noch gesagt, dass "Lindemann" ein Solo Projekt von TL wäre. Das ist einfach gelogen. Das Ding war 50/50 Lindemann/Tägtgren. Wahrscheinlich hatte er in der Zeit von 2015 bis 2020 mehr Zeit mit TL verbracht als die ganzen anderen Rammstein Mitglieder, da Rammstein da ja relativ inaktiv waren. Ein Interview mit seiner Frau wäre genauso wie ein Interview mit den Frauen der anderen Rammstein Mitglieder. Da würde man das sicherlich nicht unerwähnt lassen. Warum also hier?
Weil dann die zentrale Interviewpartnerin selbst komplett unglaubwürdig rüberkommt.
Die ganze Reportage ist einfach nur komplett lächerlich. Weglassen von Fakten und bösartiges Framing vor dem Herrn. Und dann wundern sich die Medien, wenn Leute ihnen nicht mehr vertrauen oder für sowas keine GEZ mehr zahlen wollen.