Unity sieht anders aus

Unity sieht anders aus

,,United by music" lautete das Motto des diesjährigen Eurovision Song Contests. Was für eine bittere Ironie angesichts der massiven Spaltung, die das Publikum durchzog. Skandälchen, Provokationen, ideologiegeschwängerte Medusen - der angeblich unpolitische Gesangswettbewerb verkommt zu einer hochpolitisierten multimedialen Shitshow.

Von Bent-Erik Scholz
Der ESC ist eine komplizierte Kiste. Ein europäischer Gesangswettbewerb soll es sein, an dem aber auch Länder wie Aserbaidschan oder Australien teilnehmen. Eine queere Propagandaveranstaltung sei er, rufen schlecht gelaunte Männer, und vergessen dabei, dass 90% der großen Popkünstler der letzten fünf Jahrzehnte immer biegsam mit Sexualität und Geschlechterrollen umgingen - genau wie sie verleugnen, dass der Kultfaktor des ESC nicht zuletzt in seiner Popularität in der schwulen Szene verankert ist. Gleichzeitig betont die European Broadcasting Union (EBU) beharrlich, der Song Contest sei dezidiert unpolitisch, dennoch wurde Russland nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine vom Wettbewerb ausgeschlossen. Nicht zu vergessen das seit Jahren andauernde Gemaule, dass das Bewertungssystem (50% der Punkte kommen von der Jury, 50% vom Publikum) zutiefst undemokratisch sei, da nur der Publikumssieger entscheidend sei - wobei regelmäßig vernachlässigt wird, dass gerade das Televoting oft für politische Statements missbraucht wird, siehe den Sieg der Ukraine vor zwei Jahre.

Dieses Jahr jedoch schien die Stimmung besonders aufgeheizt zu sein, was vor allem an der Teilnahme Israels am Wettbewerb lag, die Online-Maulhelden aller politischer Richtungen zu Höchstformen auflaufen ließ - seien es die sich mit Begriffen wie ,,queer" oder ,,intersektionell" schmückenden Salonkommunisten, die seit Jahrzehnten einen merkwürdigen Fetisch für Israelhass haben; oder aber die neurotischen Liberalen, die auch noch den leisesten Hauch von Kritik am Handeln der israelischen Regierung oder des Militärs zu antisemitischer Hasskriminalität erklärt. Diese beiden, sich insbesondere auf Twitter gegenseitig radikalisierenden Meinungslager führten parallel zu den Semifinals und Proben in Malmö online das große Pimmelfechten der Hate-Boner auf, und verstiegen sich beiderseits zu niederträchtigen Lächerlichkeiten.

Schon allein der Umstand, dass Israel überhaupt antreten durfte, versetzte nicht wenige Linkspopulisten in den sozialen Medien in schiere Entrüstungsstürme - wie das denn möglich sei, wenn doch Russland nach Beginn des Kriegs mit der Ukraine disqualifiziert worden wäre? Gern vergessen wird hierbei, dass die Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Ukraine bereits 2014 mit der Annexion der Krim begannen. Ebenfalls vergessen wird, dass auch Aserbaidschan trotz seiner Rolle im Bergkarabachkonflikt - zuletzt startete das Land unter anderem letzten Herbst eine Militäroffensive gegen die Republik Arzach - weiterhin am ESC teilnehmen darf. Die Inkonsequenz der Disqualifizierungsforderungen allein entlarvt sie als das, was sie sind: situative Polterreaktionen auf das, was gerade im Diskurs stattfindet. Um aufrichtigen Aktivismus für den Frieden handelt es sich hierbei selten, zumeist ist es Aktivismus gegen ein spezifisches Land.

Das zeigt sich vor allem auch darin, dass es innerhalb der letzten Woche förmlich zur Königsdisziplin erkoren wurde, alles, was rund um den ESC schieflief, der israelischen Delegation in die Schuhe zu schieben. Dass die zwanzig Jahre alte israelische Sängerin in Sippenhaft für Verfehlungen ihrer Regierung genommen wird, mit Hass und Drohungen belegt für etwas, das in der Gesamtgemengelage der Welt so irrelevant ist wie der Eurovision Song Contest, lässt tief in die Seele derer blicken, die die Schuld für jedes noch so kleine Versagen dieses Jahr bei Israel suchten.

Jetzt mögen diese Leute argumentieren, dass die Kunst und die Künstlerin hierbei nicht unschuldig sein könne, schließlich habe sie ja auch Sympathien für die Regierung Netanjahu bekundet und angekündigt, nach dem ESC den Militärdienst in Israel anzutreten - dementsprechend sei sie durchaus in die Mitverantwortung zu ziehen. Wer jedoch sowas behauptet, ist ganz nah an den irren Vorstellungen des völlig entfesselten Journalisten und FDP-Politikers (was für eine Kombination!) Tobias Huch, der sich in einem Artikel in der Jüdischen Allgemeinen dazu verstieg, zu schreiben, Zivilisten in Gaza seien nicht per sé unverantwortlich für die Verbrechen der Hamas am 7. Oktober, und schließlich hätten ja zwei Drittel der Zivilbevölkerung diese befürwortet.

Derweil treten auf Twitter Figuren wie Anabel Schunke oder Marie von den Benken auf den Plan, die sich aus dem sicheren Abstand der liberalen Bohème über jede Äußerung von nicht-heterosexuellen Personen, die nicht eindeutig Pro-Israel ist, in widerlichster Weise in Gewaltfantasien hochjazzen: ,,Viel Glück diesen drei Vollblut-Humanisten, wenn sie ihren Mega-Song demnächst mal live in Gaza performen", schreibt von den Benken, und man sieht vor seinem geistigen Auge nahezu, wie sie sich lüstern die Hände reibt, bevor sie zum nächsten Satz ansetzt: ,,Die drei Hamas-Marionetten hängen da schneller an den Eiern aufgeschlitzt am Baukran, als sie ,LGBTQ+' rufen können."

Eden Golan heißt die Künstlerin, die Israel ins Rennen geschickt hat. Während Nemo, für die Schweiz antretend, von Deutschland aus nach Malmö trampt, darf Golan ihr Hotel nur unter strengen Sicherheitsvorkehrungen verlassen, zu groß ist die Angst vor Übergriffen auf die gerade einmal Zwanzigjährige. Trotzdem machen sich auf Twitter Gerüchte breit, in denen der israelischen Delegation vorgeworfen wird, andere Teilnehmer belästigt zu haben.

Richtig ist: Nachdem die Kandidaten aus den Niederlanden (Joost Klein) und Irland (Bambie Thug) während einer Pressekonferenz offen abschätzig mit Eden Golan umgingen - Joost Klein mit herablassenden Zwischenbemerkungen, Bambie Thug mit deutlichen nonverbalen Signalen, sobald Golan sprach - veröffentlichten Mitreisende von Golan in ihren Instagram-Stories Nachrichten über die entsprechenden Kandidaten, ,,not a friend" oder ,,Kein Antisemit darf neben uns singen oder atmen." Der Kommentator des israelischen Senders ließ sich ebenfalls zu einigen dementsprechend bissigen Äußerungen herab. Die EBU nahm dieses Verhalten zwar wahr, sanktionierte es aber zur großen Empörung vieler Beobachter nicht, wahrscheinlich, weil sie ahnte, dass hier affektiv auf eine Provokation reagiert wurde. Wie so oft in Debatten rund um Israel wird die Kausalkette hierbei gern mal durcheinandergebracht.

Kein Fall machte die pathologische Lust der Massen an der Delegitimieren Israels so deutlich wie die Disqualifikation der Niederlande wenige Stunden vor dem Finale. Kaum nämlich war diese bekannt gegeben worden, begannen die mit Palästina-Flaggen dekorierten Twitter-Accounts, wilde Gerüchte in die Welt zu setzen. ,,Joost hat jemanden von der israelischen Delegation geschlagen, nachdem dieser sich über ihn und den Tod seines Vaters lustig gemacht hat", schreibt jemand, ohne eine Quelle dafür zu nennen. ,,Joost war so ein Schatz während dieser gesamten ESC-Saison, jetzt musste EIN VERFICKTES LAND seinen Traum ruinieren."

Das Problem an dieser Geschichte? Sie ist von vorn bis hinten gelogen. Joost Klein wird vorgeworfen, eine Kamerafrau (kein Mitglied der israelischen Delegation) bedroht (nicht geschlagen) zu haben, welche daraufhin Beschwerde einlegte. Aufgrund der laufenden Ermittlungen sei Klein vom ESC ausgeschlossen worden. Dem Internet-Mob war das egal, für ihn war stattdessen eindeutig, und ich kann nicht fassen, dass dies ernsthaft kursierte: Israel musste die Kamerafrau entweder geschmiert oder zur Anzeige überredet haben, bei der EBU handle es sich eindeutig um einen Zionistenverein, der der Delegation des Judenstaates alles durchgehen ließe. Beweise? Fehlanzeige. Anderswo nennt man sowas eine Verschwörungstheorie.

Das ist vor allem deshalb interessant, wenn man es vergleicht mit Aussagen der Gegenseite, als dann tatsächlich die Resultate eintrudelten. Nur zur Erinnerung: hier geht es immer noch um einen Musikwettbewerb, und in diesem belegte Israel den 5. Platz mit 52 Punkten der Jury und 323 Votes aus dem Publikum. Nach Zuschauerstimmen allein wäre Israel somit auf dem zweiten Platz gewesen. Aus vierzehn Ländern sowie dem ,,Rest of the World" bekam Israel vom Publikum die Höchstpunktzahl, von der Fachjury wurde Eden Golan ins Mittelfeld gevotet. Dies lag nicht etwa an der herausragenden Qualität des israelischen Beitrags, sondern an Massenabstimmungen, zu denen nicht zuletzt die bereits erwähnten Schunkes und von den Benkens, sondern auch die Ronzheimers dieser Welt regelrecht aufriefen, als handle es sich dabei um eine Bürgerpflicht. Es ist derselbe ,,Wir wollen ein Zeichen setzen"-Pseudoaktivismus, der vor zwei Jahren der Ukraine den Sieg bescherte.

In Wahrheit war der israelische Beitrag nämlich nur so durchschnittlich interessant - und dass bei einem Eurovision Song Contest nebst kompetent hergestellter und gut intonierter Musik auch ein gutes Maß an Flippigkeit vonnöten ist, um zu überzeugen, dürfte niemanden überraschen. Selbst der oft nostalgisch herbeizitierte, legendäre ABBA-Auftritt vor fünfzig Jahren beschränkte sich nicht auf eine rein musikalische Darbietung, sondern reicherte die Performance mit dem Auftritt eines als Napoleon verkleideten Dirigenten an. Mit netter Musik allein gewinnt man eben keinen Wettbewerb. Entsprechend dienen die Jurys beim ESC, zusammengesetzt aus Branchenkennern und Musikexperten, als Korrektiv, auch um etwaige politische Bewegungen abzufedern und das Augenmerk auf die musikalische Qualität zu richten.

Es sei denn, man ist wie Anabel Schunke förmlich besessen von der Idee, jede kleinste Bewegung sei als Angriff zu verstehen. ,,So kann mir jemand dieses drecks antisemitisch motivierte Jury-Voting erklären?", schreibt die Achgut-Bloggerin auf Twitter. ,,Die israelfeindliche Jurys haben gerade durch das Publikum eine anti-antisemitische Ohrfeige kassiert", tönt der bereits erwähnte Ex-Erotik-Unternehmer Tobias Huch. Merke: einen mittelmäßigen Song mittelmäßig zu bewerten kann als Diskriminierung ausgelegt werden, wenn er aus dem falschen Land kommt.

Zum Vergleich: über die 46 Jurypunkte (und 0 Publikumspunkte) für das Vereinigte Königreich beschwerte sich niemand derart lautstark. Dabei war die Performance des britischen Sängers Olly Alexander eine nahezu überbordend explizite Darstellung von homosexueller Erotik. Warum erkennen Schunke und Huch hierin keine eindeutig homophobe Diskriminierung? Weil sie das Lied als zahnloses Derivat von Troye Sivans ,,Rush" erkennen, sogar inklusive der Pet Shop Boys-Referenz?

Während der Veranstaltung wird Eden Golan ausgebuht - es gelingt dem Ton-Team nicht, die Rufe und Pfiffe völlig aus dem Sendesignal herauszufiltern. Da steht nun also diese junge Frau, denke ich, sie performt da ihr kleines nettes Liedchen. Im Grunde genommen völlig harmlos, aber doch, sie muss in diesem Moment hinhalten als Repräsentanz für eine Regierung und ihre Entscheidungen, wird dafür stellvertretend zur Verantwortung gezogen, bedroht und ausgepfiffen. Während drinnen so getan wird, als sei die Welt in Ordnung, wird draußen die neuerdings merkwürdig israelbesessene Greta Thunberg von der Polizei abgeführt. Auf der anderen Seite wird sie gleichzeitig unverhältnismäßig hofiert und mit Zustimmung aus dem Netz überschüttet. Aus allen Richtungen wird an ihr gezerrt. Was für ein absurder Quatsch. Es ist, als würde man Billie Eilish für die Außenpolitik unter Donald Trump zur Rechenschaft ziehen wollen.

Gewonnen hat den Eurovision Song Contest Nemo aus der Schweiz, mit einem Song, welcher Elemente von Drum'n'Base, Oper, Hip-Hop und cineastischer Atmosphäre zu einer stringenten Drei-Minuten-Popnummer zusammenwebt. Nemo stellt darüber hinaus eine beachtliche stimmliche Bandbreite zur Schau, rappt und trällert im Falsett, performt dabei nahezu akrobatisch auf einem rotierenden Kegel - ein minimalistischer, dafür umso wirkungsvollerer Show-Act. What's not to love, möchte man denken, macht jedoch wieder einmal die Rechnung ohne den Twitter-Mob, der sich vor allem in Queerfeindlichkeit ergießt.

Anabel Schunke, die sonst sehr zurecht darauf hinweist, dass queere Unterstützung für Palästina ziemlich ironisch angesichts des Ansehens von queeren Menschen in dieser Region ist, beweist uns, dass ihr vorgeschobenes Engagement für queere Rechte in Gaza erstunken und erlogen ist, indem sie über Nemos nicht-binäre Identität schreibt, Nemo sei ,,am Ende nichts weiter als ein gewöhnlicher Mann, der sich durch Pronomen und Fantasiegeschlecht besonders machen will." Ihr gesamter Post trieft nur so vor Abschätzigkeit gegenüber einem jungen, vielseitigen Talent, welches durch Ausstrahlung und Fähigkeit immerhin noch Platz 5 im Publikumsvoting erreichte - und ohne die Ideologiepunkte für Israel und Ukraine sicherlich noch etwas weiter oben gelandet wäre.

Es ist ein Vorwurf, der immer wieder kommt, sobald irgendetwas nicht rein Heterosexuelles den ESC gewinnt - holt ein konventioneller Popsong eines konventionellen Künstlers den ersten Platz des Wettbewerbs, bleibt dieses stumpfe Ressentiment immer aus, er wird nur aus der Kiste geholt, sobald etwas auch nur eine Idee von der gängigen Norm abweicht. ,,Es geht schon lange nicht mehr um den Gesang", schreibt eine Nutzerin auf Facebook. ,,Je schriller, je bunter, je nackiger, je schräger, umso erfolgreicher." Das schreibt sie über jemanden, der Sologesang studierte, bereits in jungem Alter diverse Instrumente spielte, in der Schweiz bereits ein regelrechter Star ist und wahrscheinlich mühelos die Arie der Königin der Nacht schmettern könnte.

Dass der ,,Mann im Röckchen" ein großartiger Performer sein könnte, scheint für viele Menschen ein Ding der Unmöglichkeit. Daraus spricht ein Weltbild, das schon seit einem halben Jahrhundert veraltet ist - wer sich an der Darstellung von Androgynität in Musik stört, der hat offenbar nicht nur Lady Gaga und Marilyn Manson, sondern auch Elton John, Prince und David Bowie verpasst. Fundiert ist das Gejammere über das Verkommen des ESC zur ,,Tuntenveranstaltung" in keiner Weise - von fünfundzwanzig Performances dieses Jahr gab es zwei, also unter zehn Prozent, in denen Queerness ein Hauptthema war.

Der ebenfalls sehr beliebte, oft im selben Atemzug daherkommende Vorwurf der Obszönität überdies fiel in diesem Jahr ebenso nur in Bezug entweder auf Nemos Bekenntnis zur Nichtbinarität oder zu Olly Alexanders Abbildung freier schwuler Sexualität. Nicht etwa in Bezug auf den zwischendurch (scheinbar) untenrum nackt performenden und seiner in der Luft schwebenden Unterhose hinterherbetenden Windows95man. Dass auch in diesem Aspekt der ESC-Rezeption vor allem Ressentiment mitschwingt, wundert leider wenig.

Dabei schafft Nemo es auch auf andere Weise, zu zeigen, wie man sich auch völlig frei von Ressentiments platzieren kann: gemeinsam mit verschiedenen anderen Künstlern erschien einige Tage vor dem Finale ein Statement gegen den Krieg in Gaza auf Instagram, vorsichtig und durchdacht formuliert und abseits aller plumpen Rhetorik oder falschen Schuldzuweisungen, mit Sätzen wie den folgenden: ,,Es ist uns wichtig, solidarisch mit den Unterdrückten zu sein, und unseren aufrichtigen Wunsch nach Frieden, andauerndem Waffenstillstand und einer sicheren Rückkehr aller Geiseln zum Ausdruck zu bringen. Wir stehen vereint gegen alle Formen von Hass, darunter Antisemitismus und Islamophobie."

Nach Bekanntgabe des Ergebnisses beim ESC wird der Gewinnersong noch einmal aufgeführt. Am Ende der Siegerperformance fällt Nemo auf die Knie und hebt die gläserne Eurovision-Trophäe in Form eines Mikrophons hoch über den Kopf, stellt sie dann etwas schwungvoll auf dem Boden der Bühne ab. Der Pokal zerbricht sauber in zwei Stücke, ungefähr vier Minuten nach Übergabe. Ein chaotischer und symbolischer Abschluss.

14.05.24
*Bent-Erik Scholz arbeitet als freier Mitarbeiter für den RBB
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