Vom Populismus zum Rechtsradikalismus - und warum Wegsehen keine Option mehr ist
Die Verschiebung politischer Diskurse nach rechts ist kein plötzliches Ereignis, sondern das Ergebnis einer langen Entwicklung. Populismus war dabei selten das Endstadium. Er war das Einfallstor. In vielen Ländern ist er inzwischen zur Rampe geworden, über die offen rechtsradikale Positionen in Parlamente, Regierungen und die gesellschaftliche Mitte getragen werden.
von Serdar Somuncu
von Serdar Somuncu
Historische Vorläufer: nichts davon ist neu
Wer glaubt, das alles sei ein Phänomen der letzten fünf oder zehn Jahre, irrt. In Österreich erzielte die *Freiheitliche Partei Österreichs* bereits 1999 rund *27 %* der Stimmen und zog in eine Regierung ein - ein Tabubruch, der damals noch internationale Sanktionen nach sich zog. Heute wäre er kaum mehr eine Schlagzeile.
In Frankreich legte *Jean-Marie Le Pen* mit dem Front National den Grundstein für das, was seine Tochter *Marine Le Pen* später strategisch perfektionierte. 2002 schaffte es Jean-Marie Le Pen überraschend in die Stichwahl der Präsidentschaft (knapp *17 %* im ersten Wahlgang). 2022 erreichte Marine Le Pen im zweiten Wahlgang bereits *41,5 %* - kein Randphänomen mehr, sondern eine reale Machtoption. Der umbenannte *Rassemblement National* ist heute in vielen Arbeiter- und Vorstadtmilieus stärker verankert als die klassische Linke.
Auch Spanien ist kein weißer Fleck. Mit *Vox* zog erstmals seit der Franco-Diktatur wieder eine klar rechtsradikale Partei ins Parlament ein. 2019 kam sie auf *15 %, 2023 stabilisierte sie sich bei rund **12 %* - trotz massiver öffentlicher Kritik.
Die neue Normalität: Rechts, aber geschniegelt
Was sich verändert hat, ist weniger der Kern der Ideologie als ihre Verpackung. In Italien regiert *Fratelli d'Italia* unter Giorgia Meloni. Die Partei wurzelt historisch im postfaschistischen Milieu, gewann 2022 aber *26 %* der Stimmen - mit dem Versprechen von Ordnung, Tradition und nationaler Souveränität, nicht mit offenem Extremismus.
In den Niederlanden wurde *Partij voor de Vrijheid* (PVV) von Geert Wilders 2023 stärkste Kraft mit rund *24 %*. Der Ton: weniger polternd als früher, die Inhalte: kaum verändert. Islam als Feindbild, Migration als Bedrohung, nationale Abschottung als Allheilmittel.
Ungarn und Polen zeigen die nächste Stufe. *Fidesz* gewann 2022 erneut mit über *54 %* der Stimmen. *Prawo i Sprawiedliwosc* (PiS) lag 2019 bei *43 %*. Hier geht es längst nicht mehr nur um Wahlerfolge, sondern um den systematischen Umbau von Justiz, Medien und Institutionen - formal demokratisch legitimiert, faktisch illiberal.
Die Strömungen: ein rechtes Mosaik
Rechtsradikalismus ist heute kein monolithischer Block mehr. Es gibt mindestens vier erkennbare Strömungen:
1. *Der ,,bürgerliche" Nationalkonservatismus*
Saubere Anzüge, staatsmännische Rhetorik, Betonung von Familie, Ordnung, Nation. Inhaltlich autoritär, nach außen moderat.
2. *Der identitäre Kulturkampf*
Fokus auf ,,kulturelle Identität", Gender-Feindlichkeit, angebliche Bedrohung durch Migration. Oft anschlussfähig an konservative Milieus.
3. *Der soziale Nationalismus*
Sozialstaat ja - aber nur für ,,die Eigenen". Erfolgreich bei früheren linken Wählern, etwa in Nordfrankreich oder Ostdeutschland.
4. *Der offene Radikalismus*
Laut, provokant, bewusst grenzüberschreitend. Kleinere Anteile, aber wichtige Vorfeld- und Mobilisierungsfunktion.
Diese Strömungen überlappen sich, wechseln ihre Masken je nach Publikum und Situation - und genau das macht sie so erfolgreich.
Zahlen, die man nicht wegdiskutieren kann
Zwischen 2010 und 2024 haben sich rechtsradikale oder klar rechtspopulistische Parteien in Europa im Schnitt *verdoppelt* - teils verdreifacht - gemessen an Stimmenanteilen und parlamentarischer Präsenz. In mehreren Ländern stellen sie heute entweder die Regierung oder sind stärkste Oppositionskraft. Das ist keine Protestwelle mehr. Das ist Struktur.
Und jetzt?
Verbotsverfahren mögen juristisch notwendig sein, politisch sind sie eine Illusion. Sie bekämpfen Symptome, nicht Ursachen. Sie verhindern keine Wiederkehr - im Zweifel beschleunigen sie die Opfer- und Märtyrer-Erzählung.
Was fehlt, ist nicht Pragmatismus, sondern Realismus. Die politische Mitte muss wieder lernen, Konflikte auszutragen, statt sie zu verwalten. Wähleraufträge umzusetzen, statt sie zu relativieren. Probleme zu benennen, statt sie sprachlich zu entschärfen.
Eine offene Debatte heißt nicht, rechte Positionen zu übernehmen. Sie heißt, ihnen argumentativ standzuhalten. Wer das verweigert, überlässt das Feld denen, die einfache Antworten versprechen - und komplexe Gesellschaften in einfache Feindbilder zerlegen.
Die entscheidende Frage ist nicht, ob der Populismus in Rechtsradikalismus übergeht. Das tut er längst. Die Frage ist, ob die demokratische Mitte bereit ist, wieder Verantwortung zu übernehmen - inhaltlich, sprachlich und politisch.
31.12.25
©Serdar Somuncu
Das neue Buch - Lügen -Kulturgeschichte einer menschlichen Schwäche"
*Serdar Somuncu ist Schauspieler und Regisseur
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Wer glaubt, das alles sei ein Phänomen der letzten fünf oder zehn Jahre, irrt. In Österreich erzielte die *Freiheitliche Partei Österreichs* bereits 1999 rund *27 %* der Stimmen und zog in eine Regierung ein - ein Tabubruch, der damals noch internationale Sanktionen nach sich zog. Heute wäre er kaum mehr eine Schlagzeile.
In Frankreich legte *Jean-Marie Le Pen* mit dem Front National den Grundstein für das, was seine Tochter *Marine Le Pen* später strategisch perfektionierte. 2002 schaffte es Jean-Marie Le Pen überraschend in die Stichwahl der Präsidentschaft (knapp *17 %* im ersten Wahlgang). 2022 erreichte Marine Le Pen im zweiten Wahlgang bereits *41,5 %* - kein Randphänomen mehr, sondern eine reale Machtoption. Der umbenannte *Rassemblement National* ist heute in vielen Arbeiter- und Vorstadtmilieus stärker verankert als die klassische Linke.
Auch Spanien ist kein weißer Fleck. Mit *Vox* zog erstmals seit der Franco-Diktatur wieder eine klar rechtsradikale Partei ins Parlament ein. 2019 kam sie auf *15 %, 2023 stabilisierte sie sich bei rund **12 %* - trotz massiver öffentlicher Kritik.
Die neue Normalität: Rechts, aber geschniegelt
Was sich verändert hat, ist weniger der Kern der Ideologie als ihre Verpackung. In Italien regiert *Fratelli d'Italia* unter Giorgia Meloni. Die Partei wurzelt historisch im postfaschistischen Milieu, gewann 2022 aber *26 %* der Stimmen - mit dem Versprechen von Ordnung, Tradition und nationaler Souveränität, nicht mit offenem Extremismus.
In den Niederlanden wurde *Partij voor de Vrijheid* (PVV) von Geert Wilders 2023 stärkste Kraft mit rund *24 %*. Der Ton: weniger polternd als früher, die Inhalte: kaum verändert. Islam als Feindbild, Migration als Bedrohung, nationale Abschottung als Allheilmittel.
Ungarn und Polen zeigen die nächste Stufe. *Fidesz* gewann 2022 erneut mit über *54 %* der Stimmen. *Prawo i Sprawiedliwosc* (PiS) lag 2019 bei *43 %*. Hier geht es längst nicht mehr nur um Wahlerfolge, sondern um den systematischen Umbau von Justiz, Medien und Institutionen - formal demokratisch legitimiert, faktisch illiberal.
Die Strömungen: ein rechtes Mosaik
Rechtsradikalismus ist heute kein monolithischer Block mehr. Es gibt mindestens vier erkennbare Strömungen:
1. *Der ,,bürgerliche" Nationalkonservatismus*
Saubere Anzüge, staatsmännische Rhetorik, Betonung von Familie, Ordnung, Nation. Inhaltlich autoritär, nach außen moderat.
2. *Der identitäre Kulturkampf*
Fokus auf ,,kulturelle Identität", Gender-Feindlichkeit, angebliche Bedrohung durch Migration. Oft anschlussfähig an konservative Milieus.
3. *Der soziale Nationalismus*
Sozialstaat ja - aber nur für ,,die Eigenen". Erfolgreich bei früheren linken Wählern, etwa in Nordfrankreich oder Ostdeutschland.
4. *Der offene Radikalismus*
Laut, provokant, bewusst grenzüberschreitend. Kleinere Anteile, aber wichtige Vorfeld- und Mobilisierungsfunktion.
Diese Strömungen überlappen sich, wechseln ihre Masken je nach Publikum und Situation - und genau das macht sie so erfolgreich.
Zahlen, die man nicht wegdiskutieren kann
Zwischen 2010 und 2024 haben sich rechtsradikale oder klar rechtspopulistische Parteien in Europa im Schnitt *verdoppelt* - teils verdreifacht - gemessen an Stimmenanteilen und parlamentarischer Präsenz. In mehreren Ländern stellen sie heute entweder die Regierung oder sind stärkste Oppositionskraft. Das ist keine Protestwelle mehr. Das ist Struktur.
Und jetzt?
Verbotsverfahren mögen juristisch notwendig sein, politisch sind sie eine Illusion. Sie bekämpfen Symptome, nicht Ursachen. Sie verhindern keine Wiederkehr - im Zweifel beschleunigen sie die Opfer- und Märtyrer-Erzählung.
Was fehlt, ist nicht Pragmatismus, sondern Realismus. Die politische Mitte muss wieder lernen, Konflikte auszutragen, statt sie zu verwalten. Wähleraufträge umzusetzen, statt sie zu relativieren. Probleme zu benennen, statt sie sprachlich zu entschärfen.
Eine offene Debatte heißt nicht, rechte Positionen zu übernehmen. Sie heißt, ihnen argumentativ standzuhalten. Wer das verweigert, überlässt das Feld denen, die einfache Antworten versprechen - und komplexe Gesellschaften in einfache Feindbilder zerlegen.
Die entscheidende Frage ist nicht, ob der Populismus in Rechtsradikalismus übergeht. Das tut er längst. Die Frage ist, ob die demokratische Mitte bereit ist, wieder Verantwortung zu übernehmen - inhaltlich, sprachlich und politisch.
31.12.25
©Serdar Somuncu
Das neue Buch - Lügen -Kulturgeschichte einer menschlichen Schwäche"
*Serdar Somuncu ist Schauspieler und Regisseur
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