Das Festival des politischen Liedes 2.0

Das Festival des politischen Liedes 2.0

Von 1970 bis 1990 feierte das Festival des politischen Liedes in der DDR die internationale Gesangskunst. Unter dem Namen ESC feierte es nun im schwedischen Malmö ein furioses Comeback.

von Alexander Kira
In der ´68 Ära hatte ein Musiker einmal angekündigt, dass er ein paar Lieder spielen werde - und das Publikum danach direkt über die Lieder diskutieren könne. Er wollte damit den damals häufigen chaotischen Konzertabbrüchen wegen spontanem Diskussionsbedarf des politisch bewegten Publikums zuvorkommen. Darüber wurde aus heutiger Sicht viel gelacht. Beim diesjährigen ESC in Malmö drängt sich der Verdacht auf, dass das Lachen zu früh kam. Denn genau an diese Episode der Musikgeschichte dürfte sich die ESC-Leitung erinnert gefühlt haben, als von allen Seiten versucht wurde, den Wettbewerb zu einer Art UNO-Sitzung mit Musik zu machen. Auch die Künstler musste sich tapfer beim neuen Festival des politischen Liedes behaupten, in welchem sie sich unerwartet wiederfanden.

Wir haben es alle mit Sekt und Chips durchgestanden, doch für die Zukunft muss eine Lösung her. Viele KommentatorInnen waren hier ratlos - dabei liegt die Lösung auf der Hand: Klingt nicht ESC fast schon so wie EP, also Europaparlament? Warum entlasten wir die Musikbranche nicht und überlassen die Politik gleich denen, die sie beruflich machen? Warum singen also beim nächsten Mal in der Schweiz nicht gleich die Europaparlamentarier? Vielleicht denkt die Schweiz dann auch über einen Beitritt nach und die Briten kommen zurück. Den Gegnern eines solchen Vorschlages sei ins Bewusstsein gerufen, dass sich hieraus eine Vielzahl weiterer Vorteile ergibt: Keine albernen Wechselkleider mehr. Keine Personen, die aus unerfindlichen Gründen auf Felsen oder Menschengruppen oder Dinge klettern, um die Nebelmaschine anzusingen. Auch kein mühsames Hineindenken in nicht immer leicht zu unterscheidende Lieder mehr: Denn auch die Titelauswahl würde angepasst werden. Mit altbekannten und bewährten Songs wie ,,Sag mir wo Du stehst?" oder ,,Bella Ciao" kommt sofort Stimmung auf - und antworten diese Songs nicht viel besser auf die Fragen der Zeit als bloße lautmalerische Oktavsprünge?

Damit wäre zugleich das Problem der traditionell umstrittenen Jury-Entscheidungen gelöst: Der Siegersong würde, wie bei der Europawahl, selbstredend an der Wahlurne ermittelt, das wäre endlich ein wirklich amtliches Endergebnis. Nun werden einige fragen, was dann mit der sympathischen Musikertruppe geschieht, die nun den Green Room räumen muss. Ab ins Europaparlament währenddessen! Es wäre Schluss mit der Politikmüdigkeit bei Alt und Jung, wenn Politik wieder so emotional wäre, wie nur der ESC es kann. Spontanes Fahnenschwenken im Parlament, Umarmungen in einer Herzlichkeit, wie sie sonst nur Jean-Claude Juncker fertiggebracht hatte. Ein Europa, bei Kaltgetränken und Häppchen vor dem Fernseher verein, das gebannt auf den nächsten Redebeitrag wartet. Charmant und mit leichter Ironie kommentiert von Thorsten Schorn. Wen dass nicht Europa und die Welt zusammenführt, dann ist uns auch nicht mehr zu helfen. Aber keine Angst: Natürlich wird im EP dann auch gesungen. Vor der Übertragung jeder Sitzung wird das Logo der Eurovision und wiederbelebten Intervision eingeblendet. Und alle singen unter Anleitung von Wolf Biermann die neue Eurovisionshymne: Völker hört die Signale - auf zum letzten Gefecht!


22.05.2024
Alexander Kira hat über internationalen Menschenrechtsschutz provomiert und ist Jurist, Moderator und Kabarettist. Er lebt und schreibt im Herzen von Berlin.
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