DASG - Der alte Sack grummelt

DASG - Der alte Sack grummelt

,,Meinung"

Wann immer ich irgendjemanden sagen höre: ,,Das ist aber meine Meinung", beginnen meine inneren Warnlampen zu blinken. Zornige Worte drängen aus meinem Hirn Richtung Zunge. Nur ein höflichkeitsgesteuerter Zurückhaltungsmodus verhindert Sätze, in denen ich das Gegenüber auffordern möchte, seine Meinung rektal zu verklappen und dafür die eigene zur Verfügung stehende Öffnung zu nutzen.


Von Jürgen König
Was war das damals für ein großes Aufatmen, als die in der DDR zwar per Verfassung garantierte aber in Wirklichkeit niemals zugelassene Meinungsfreiheit in den 90ern Dank des Mauerfalls durch echte Meinungsfreiheit ersetzt wurde. Es war faszinierend, plötzlich jederzeit Dinge aussprechen zu können, die nicht durch antrainierte Allgemeinfloskeln verwässert waren. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass mich damals sogar einer der neuen Westchefs regelrecht aufforderte, mich lautstark zu wehren und nicht alles kommentarlos hinzunehmen. Ich war sehr dankbar für diese Aufforderung. Denn Vorgesetzte, die zum Widerspruch ermunterten, waren mir bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht untergekommen. Allerdings sind sie mir seit damals auch nie wieder begegnet.

Und trotzdem. Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ließ mich erleben, dass die Freiheit der Rede eine feine Sache war. Aber ich musste auch recht schnell lernen: Freie Meinungsäußerung bedeutet noch lange nicht, dass eine Meinung zwingend zutreffend ist. Ich konnte zwar alles sagen, was ich dachte, aber immer gab es Leute, die auch genau wussten, wie alles funktioniert und was getan werden musste. Und ich erkannte, dass es einiger Anstrengung bedurfte, sich mit der eigenen Meinung Gehör zu verschaffen. Ohne sachliche Diskussion war da nichts zu machen. Gut so.

Und heute? Erzähle was du willst, nenne es Meinung und fühle dich wichtig und relevant. Aber bitte erwarte nicht, dass deine Ansicht die unumstößliche Wahrheit ist. Das ist zumindest für mich die Basis einer Meinung. Die heutige Realität ist aber für viele eine andere: Ziehe keinesfalls in Erwägung, dass es noch andere ,,Wahrheiten" geben könnte. Ersetze Faktenwissen durch Lautstärke. Betrachte Widerspruch als persönlichen Angriff. Unterstelle allen anderen Meinungen wahlweise Ignoranz, Dummheit oder regierungsgesteuertes Kampagnendenken.

Herrgott. Was ist denn Meinung? Im besten Fall eine Äußerung, die im Ergebnis langer Überlegungen entstanden ist, über die wenigstens ein paar Minuten nachgedacht wurde. Also nicht solche unfassbar blöden Sprüche wie: ,,Die muss nur mal richtig durchgefickt werden, dann läuft sie wieder in der Spur" oder ,,Alle Politiker sind Verbrecher" oder ,,Die Medien sind Systemhuren" oder ,,Das Wetter wird von den Eliten manipuliert, um die Menschheit zu minimieren". Sicher, das sind Meinungen. Begreift doch aber bitte, dass eine Meinung allein
niemals irgend etwas sinnvoll verändern kann. Eine Meinung kann nur Bestandteil eines Prozesses sein, der im Diskurs bestenfalls zu einer Lösung führt. Das Abwägen von pro und kontra muss die Grundlage jeglichen Handelns sein.

Jahrelang habe ich, als ich noch beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk arbeitete, solche Mails lesen müssen, wie diese sinngemäß wiedergegebene: ,,Ich habe doch vorige Woche schon geschrieben, dass dieser Autor, diese Autorin unbedingt abgesetzt werden muss. Das Gesülze interessiert doch niemanden. Warum läuft er/sie immer noch im Programm? Was ist da los bei euch?". Und ich hätte am liebsten geantwortet: ,,Hör zu, du Idiot. Deine verschissene Meinung ist hier völlig unangebracht. Es gibt 10x mehr Leute, die genau das hören wollen, was x/y da zu sagen hat. Kann es vielleicht sein, dass du dich etwas zu wichtig nimmst?". Stattdessen antwortete ich, dass man auch beim Radiohören eine gewisse Toleranz aufbringen müsse, da es bei jeglicher Thematik immer verschiedene Ansichten gäbe und dass es quasi unmöglich sei, es jedermann Recht zu machen. Und damit habe ich ja nicht mal etwas Falsches formuliert.

Trotzdem fällt es mir zunehmend schwer, bestimmte Meinungen zu ertragen. Erst recht, wenn der/diejenige jegliche Form von Gegenrede ablehnt und sich allen Argumenten verschließt, die seine Ansichten hinterfragen. Eigentlich müsste ich mir sagen: ,,Lass ihm seine Meinung. Er hat ein Recht darauf. Genau, wie ich ein Recht auf meine Meinung habe." Das ist aber gar nicht das Problem.

Die Frage ist vielmehr, wie man mit dieser Flut aus unversöhnlichen ,,Meinungen" umgehen soll. Wie kann man einen gemeinsamen Nenner finden, der für alle akzeptabel ist und bestenfalls einige Dinge voranbringt? Ich kann es nur wiederholen: Meinungen sind keine Fakten. Niemals. Unter keinen Umständen. Bestenfalls sind sie Aspekte, die Bestandteil eines Erkenntnisprozesses sind, der zu einem allgemeingültigen Ergebnis führt, das möglichst viele Gesichtspunkte berücksichtigt. Wobei genau das in der gegenwärtigen Zeit der Aufgeregtheit schon weltfremdes Wunschdenken zu sein scheint. Niemand hört dem Gegenüber zu. Niemand versucht, die Gedankengänge des anderen wenigstens nachzuvollziehen, auch wenn das zuweilen fast unmöglich scheint. Zu viele Meinungen sind an Absurdität nicht zu übertreffen, empfinde ich. Aber genau das denkt der andere ja auch über meine Ansichten. Ein Dilemma. Man möchte verzweifeln.

Wo ist er geblieben, der sogenannte gesunde Menschenverstand oder wenigstens der Wille zum Ausgleich? Geht es nur noch um Ego, Manipulation, Rechthaberei, Missgunst, Neid und letztlich um Macht und anschließend um deren Absicherung um jeden Preis?

Ich bin ratlos. Ich bin zornig.

Und während ich das hier schreibe, läuft im Hintergrund der Fernseher und ein Dr. Heilmann sagt gerade, als hätte er meinen Text schon gelesen: ,,Das Schöne an Meinungen ist: Man muss sie nicht teilen."

Hilft mir das weiter? Nein.

28.02.24
*Jürgen König war 33 Jahre in den öffentlich-rechtlichen Medien beschäftigt*
Kommentare
  • thomas kuhn
    01.03.2024 11:41
    danke sehr für die schönen gedanken ✌️
  • Mr.T
    01.03.2024 08:23
    Sehr schön hier von Dir zu lesen, lieber Jürgen.
    Auch ich habe das Gefühl, das der alte Sponti Spruch „Jeder hat das Recht auf meine Meinung“ inzwischen zur Realität geworden ist. Dabei kommt es auch nicht auf die Richtung desjenigen an, der die Meinung vertritt, hier sind Linke und Rechte sich sehr gleich und die Mitte hat Angst davor eigene Meinungen zu vertreten. Dadurch wird natürlich die Polarisierung immer stärker, weil die, die sich eine Meinung bilden möchten, indem Sie Informationen aufnehmen und verarbeiten, nur mit Extremen konfrontiert werden.Zudem fehlt dann hier auch zumeist der Mut, die gebildete, aber nicht radikale Meinung kundzutun, aus Angst davor, von „Meinungsstarken“ Stimmen angegriffen zu werden.
  • Daniel
    01.03.2024 07:59
    Toller Text! Genauso fühlt sich das gerade an.
    Danke.
  • Nica
    29.02.2024 22:03
    Danke für den Kommentar.
    Ich fühle mich abgeholt - besser kann man es nicht ausdrücken. - Zurück zur Menschlichkeit! ...Manno...
  • A Wei
    28.02.2024 21:24
    meinungen, auch verquere, darf man haben. problematisch wird es immer wenn sie in fanatismus abdriften. dies scheint in unserer zeit leider immer häufiger zu passieren. und zwar in alle möglichen richtungen.
    ich empfehle das buch monde vor der landung von clemens j. setz
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