Der Jugend das Scheitern erlauben

Der Jugend das Scheitern erlauben

Angesichts flächendeckender Ideologisierung, gesellschaftlicher Tribalisierung und einer immer rigoroseren Freund-Feind-Mentalität ist es vermutlich der ewige Lagerkampf der Generationen, der mehr Erkenntnispotenzial denn je birgt. Mehr noch: unterliegt die Beziehung zwischen Heranwachsenden und Erwachsenen gegenwärtig nicht selbst einer fundamentalen Transformation?

von Benjamin Johann
Der Generationenkonflikt ist ein zyklisch wiederkehrendes Phänomen. Jede Generation setzt sich aufs Neue mit der Generation ihrer Eltern auseinander, mit ihren Ideen, Idealen und Überzeugungen. Sie tut das mehr oder weniger bewusst, durch aktive Verneinung oder passive Übernahme. Kino, Kunst und Popkultur halten hierzu ein ganzes Archiv an prototypischen Erzählungen und wiederkehrenden Motiven bereit. Kindheit als idealisierter Zustand der Unschuld, Kindheit als Martyrium, Jugend als Rebellion, als Emanzipation, als soziales Problem, als Prozess der Selbstfindung und Identitätsbildung, als Phase von Initiationserfahrungen, erste Liebe, erste sexuelle Erfahrungen, erste Kontakte mit sozialer Ungleichheit und Tod, Konfrontationen mit Autoritäten, Institutionen, gesellschaftlichen Verkrustungen.

Selbstverständlich findet diese Auseinandersetzung auch aus Sicht der Erwachsenen statt. Wir alle kennen die Phrasen unserer Eltern, die Floskeln unserer Lehrer. Ja, auch sie träumten, auch sie hatten Ideale, wägten Hoffnungen, genossen den Taumel, auch sie glaubten ihren Eltern nicht, schließlich waren sie, wir alle, einmal jung. Doch all diese Träume und Hoffnungen, sie erwiesen sich als Schall und Rauch. Heute wissen sie es besser, also glaubt und vertraut ihnen, sie wollen nur das Beste für euch, wollen euch vor Enttäuschung bewahren und vor Schmerz schützen. Gestrandet an den Ufern des gewöhnlichen Lebens, berufen sie sich auf die allmächtige Erfahrung, verweisen auf den Reichtum ihres Wissens und die Autorität ihrer Erkenntnis. Der bereits 1940 verstorbene Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin schrieb einmal, dass Erfahrung die ausdruckslose Maske des Erwachsenen ist. Hinter einer Maske kann man sich verstecken, mit ihr lässt sich etwas verbergen und anderes vortäuschen. Sie ist eine künstliche Hülle, eine Kostümierung, undurchdringlich, indifferent, anonym. Ganz gleich, welche Idee oder welches Vorhaben ihr begegnet, die Maske bleibt ohne Reaktion bzw. ihre Reaktion ist die immergleiche Reaktionslosigkeit.

Nicht selten, dass Erwachsene in der Rückschau in einem Anflug von Sentimentalität, die jede Härte des Heranwachsens glattbügelt, die eigene Jugend verklären. Oder eben ihre Bitterkeit offenbaren, in dem sie den ,,Unerfahrenen" noch den Prozess des Erfahrens verwehren, den sie selbst doch gehen mussten. Was ist es, fragt Benjamin, das sie so ängstigt und provoziert? Die Unbefangenheit der Jugend? Ihre Risikobereitschaft? Ihre Offenheit und Neugier? Die Erinnerung daran, selbst einmal jung gewesen zu sein? Müssen sie die Jugend deshalb verklären, abwehren, bekämpfen? Sind die Zweifel der Heranwachsenden nicht oftmals auch die auf sie projizierten und verinnerlichten Zweifel der Erwachsenen?

Life's a bitch and then you die. Resignation, Ernüchterung, Sinn- und Trostlosigkeit, viel mehr hält das Leben nicht bereit. Benjamin kritisiert jene Haltung, die Erfahrung zum Instrument einer vorzeitigen Entwertung all dessen macht, was die Jugend anzieht und bewegt. Im Voraus wird jeder Traum als Träumerei und jedes Erleben als ein Münden in Irrtum und Ernüchterung ausgewiesen, denn, der Erwachsene hat ja all das bereits erlebt. Er hat es erlebt und er weiß: es war alles Illusion. Der süße Rausch der Jugend wird sich in die lange Nüchternheit des ernsten Lebens verwandeln. Die Wohlwollenden sagen: genießt es, denn schneller als ihr denkt, wird es schon vorüber sein. Die Verbitterten gönnen der Jugend nicht einmal diese Illusion. Der Effekt ist im einen wie im anderen Fall derselbe: Erwachsene entwerten im Voraus die kurzen Jahre, die wir Jugend nennen. Was ist perfider - ein Realismus, der jegliche Imaginationskraft aus sich verbannt hat, oder der, der die Ernüchterung noch als notwendige Erfahrung des Heranwachsens in sich trägt?

Eine exemplarische Anekdote dazu: Der Klimawandel sei ,,eine Sache für Profis". Mit dieser Aussage versuchte 2019 der damalige FDP-Vorsitzende Christian Lindner nicht nur die von Fridays for Future formulierten Anliegen und damit eine ganze Protestbewegung zu relativieren, sondern insbesondere die Legitimität junger Menschen in Frage zu stellen. Zum einen, so Lindner, könnten Kinder und Jugendliche die Komplexität der Sache noch gar nicht erfassen, denn immerhin gebe es ja genau dafür Wissenschaftler, Experten, Politiker. Zwar begrüße er grundsätzlich eine kritische, politisch interessierte Jugend, aber wenn schon Demonstrieren, dann bitte außerhalb der Schulzeit. Ganz abgesehen von dem spezifischen Umgang mit der Problematik des Klimawandels, verrät Lindners Haltung viel über das generelle Verhältnis zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden. Durch seine damalige Funktion als Berufspolitiker tritt das Perfide seines Paternalismus umso deutlicher hervor. Die Art und Weise, wie sich Bevormundung und Autorität den Anstrich des Wohlwollens verleihen. Die übergriffige bis herablassende Entmündigung junger Menschen durch Erwachsene, die auf ihr Wissen, ihre Expertise, ihre Erfahrung verweisen. Lindners rhetorische Bezugnahme auf die Schulpflicht im erwähnten Kontext zeigt unmissverständlich, welche Bedeutung er dem politischen Bewusstsein der Jugend, ihren Sorgen, Nöten, Wünschen und Hoffnungen beimisst.

Eine polemische Skizze der Gegenwart: immer häufiger lassen junge Menschen einen schier obsessiven Hyperrationalismus erkennen, während sich ältere Generationen dazu gedrängt sehen, die Jugend an das zu erinnern, was ihnen angeblich wesentlich sein sollte, nämlich Fortschrittsoptimismus und Unvernunft. Zugleich: Boomer, für die Berlin das Synonym für eine Ansammlung an Berufsjugendlichen ist, die den Hedonismus verabsolutieren und ihre eskapistische Vergnügungssucht als Selbstverwirklichung verklären. Wie erklären sich diese ,,Alten" jedoch die wachsende Begeisterung für die traditionellen und konservativen Lebensentwürfe unter ,,Jungen"? Sind die Heranwachsenden nicht selbst zerrissen, zwischen den Versprechen individueller Glücksmaximierung, Kämpfen um moralische Integrität und Verantwortlichkeit?

Interessant sind vor diesem Hintergrund die Erkenntnisse der SINUS-Jugendstudie ,,Wie ticken Jugendliche?" aus dem Jahr 2024: das Problembewusstsein der Jugendlichen ist angesichts der Vielzahl an Krisen und Problemen ausgeprägter denn je, bei aller Besorgnis bewahrt sich die Mehrheit jedoch einen von Realismus geprägten Zukunftsoptimismus; der Rückgang des einst jugendprägenden Hedonismus hält weiter an, an dessen Stelle tritt mehr und mehr eine Orientierung an klassischen bürgerlichen Tugenden; das politische Bewusstsein ist unter Jugendlichen zwar eher von Kurzlebigkeit geprägt, dennoch ist die generelle Sensibilität und Aufmerksamkeit für soziale Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Diversität und Diskriminierung groß; Jugendliche sehen sich aufgrund einer gefühlten Einflusslosigkeit politisch entfremdet und wegen des mangelnden Respekts der Erwachsenen ihnen gegenüber von der gesellschaftlichen Mitbestimmung abgekapselt; unvorstellbar ist für die meisten jungen Menschen ein Leben ohne soziale Medien, auch wenn sie durchaus kritisch und mit wachsendem Unbehagen die Auswirkungen dieser Nutzung reflektieren; festzuhalten ist unbedingt, das soziale Medien für die Mehrheit der Jugendlichen die bei weitem wichtigste Informationsquelle ist.

Vollkommen natürlich und selbstverständlich erscheint Jugendlichen heutzutage eine schier kriegerische, von Aggressivität, Unerbittlichkeit und Hochgeschwindigkeitsverurteilung geprägte Form des (Nicht-)Austausches, die man mit dem Literaturwissenschaftlicher Joseph Vogl treffenderweise als ,,ballistische Kommunikation" beschreiben könnte. Die Welt reduziert auf eine Ansammlung von Lagern, die sich entweder endlos selbstbestätigen oder der prompten Vernichtung des feindlichen Lagers widmen. Kommunikation findet auch offline längst schon auf diese Weise statt. Alles wird vereinfacht, verkürzt, zugespitzt, verabsolutiert, radikalisiert.

Die heutige Jugend, die wie eine jede ihre ihr eigene Erfahrung erforschen dürfen sollte, wird mit einem Überangebot an Identifikationsmöglichkeiten konfrontiert, mit dem eindringlichen Appell zur Zugehörigkeitsbestimmung. Ausgerechnet die, denen man oft leichtfertig nachsagt, ihnen stünden doch alle Wege offen, lassen ein gesteigertes Maß an existenzieller Verunsicherung erkennen. Angenommen wir definieren Jugend als eine kurze, vorübergehende Phase des Lebens, so stellt sich die Frage, wie viel Zeit, wie viel Raum dem heranwachsenden Subjekt überhaupt bleibt, um sich mit den Dingen zu beschäftigen, die angeblich der Jugend vorbehalten sind: Suchen, Irren, Sich-Verlieren, Experimentieren, Probieren, Träumen. Ist es doch v.a. die Aufmerksamkeit junger Menschen, um die sich die Algorithmen sozialer Medien reißen. Nicht der Raum an möglicher Erfahrung hat sich geöffnet und geweitet, sondern die scheinbare Vielfalt an Unterhaltungs- und Zerstreuungsangeboten, einschließlich des Spektrums bestehender Identitäten und immer partikularer werdenden Kollektiven, unter denen lediglich zu wählen bleibt. Wieso dann noch Risiken, Anstrengungen und den Schmerz des Irrtums eingehen?

Jugend ist nicht nur eine Frage des Alters, sondern vor allem auch eine der Einstellung, eine der geistigen Haltung zum Leben. Sicherlich, Erfahrung kann ernüchternd und schmerzlich sein, daran besteht kein Zweifel. Nur besteht die Herausforderung darin sich angesichts des Irrtums nicht in einem indifferenten Zustand der Verbitterung einzurichten. Die Resignierten kennen nur die Bilanz und den Blick zurück ins Gestrige und es sind diese, denen jede Offenheit und Ausrichtung auf Künftiges und Unbekanntes zur Provokation wird, weshalb sie es ablehnen, bekämpfen, entwerten.

Den Mächten zu widerstehen, die die eigene Vorstellungskraft lähmen und die sie mit ihren minderen Ersatzangeboten besetzen, und sich von diesen freizumachen, um die Bedingungen für wahrhaftige Erfahrung herzustellen, wird umso wichtiger, je schwieriger es wird. Der Jugend Vertrauen schenken und ihr das Scheitern erlauben, das ist die eine, im Geiste jung bleiben, das ist die andere Aufgabe. Sich den invasiven Verführungskräften des kommunikativen Kapitalismus zu entziehen und aktiv Räume der Nicht-Kommunikation zu schaffen, damit Erfahrung überhaupt wieder möglich wird, das ist eine Herausforderung ganz anderer Kategorie.


26.09.2025
Benjamin Johann (geb. 1988) studierte Theater- & Medienwissenschaft, Germanistik sowie Ethik der Textkulturen, arbeitete an der FAU Erlangen-Nürnberg, ist mittlerweile als freier Autor tätig, publiziert in unterschiedlichen Formen und Formaten und ist Mitbetreiber des Podcasts ,,Projektionen - Kinogespräche". Seine Beschäftigung mit Film, Kunst und Kultur ist immer auch Auseinandersetzung mit Gesellschaft, Philosophie, Politik - stets auf der Suche nach den ethischen wie ästhetischen Fluchtlinien unserer Gegenwart. An die überlebenswichtige Kraft der Faszination und des Anarchischen erinnert ihn seit ihrer Geburt seine Tochter.


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