Ein Dichter plaudert
Wer etwas Unliebsames sagt oder macht, bekommt keine Bühne mehr. Unliebsam ist aber nichts an sich, sondern immer nur für jemanden. Somit ist es höchst subjektiv, wer als unliebsam gilt und am Ende keine Bühne mehr bekommt - oder, im Gegenteil, eine Bühne erhält. Das alles gilt aber nur für die Prominenz! Davon sind nur Künstler betroffen, die ein großes Publikum haben und die Säle der renommiertesten Häuser füllen, oder? Auf keinen Fall! Daher möchte ich über die oftmals unbeachtete Nische der deutschen Dichterwelt plaudern. Sie dient am Ende als ein beliebiges Beispiel, in dem sich künstlerisch Schaffende anderer Bereiche ebenso gut wiederfinden werden.
Von René Kanzler
Von René Kanzler
Wie lange dauert es eigentlich, ein Gedicht zu schreiben? Das kommt sehr auf die gewählte Form und inhaltliche Tiefe an. Manchmal ist es daher schnell geschrieben, oftmals arbeitet man Tage, Wochen oder Monate daran. Inspiration, Ideenfindung, Konzeption und handwerkliche Umsetzung und Überarbeitung benötigen ihre Zeit. Im Idealfall entsteht ein sprachliches Kunstwerk, das eines Tages jemanden, der es liest, innerlich berührt sowie zum Nachdenken und Nachfühlen anregt. Vielleicht lässt es den Leser Sprache neu lernen und genießen, vielleicht sogar seinen Lebensalltag bereichern. Wir alle kennen solche Gedichte oder zumindest einzelne Strophen oder Verse, die das bei uns bewirkten.
Was erhält der Dichter für seine umfangreiche, gesellschaftlich und kulturell wertvolle Arbeit? Wenn man nicht gerade im Dunste des Marketings und der Selbstbeweihräucherung von Preise verleihenden Stiftungen und Vereinen gelandet ist, ist die Antwort einfach: Nichts. Obwohl es sich um ein Kunstwerk handelt, das einen gehörigen tiefen und direkten Einfluss auf Menschen nehmen kann, ist es am Ende paradoxerweise nichts wert. Seit 2020 sagt man dazu ,,nicht systemrelevant", um sprachlich wohlgefällig die Geringschätzung künstlerischen Schaffens auszudrücken.
Nichts ist aber doch zu wenig. Man bekommt schließlich vielleicht ein Like, möglicherweise ein ,,Schön" als Kommentar. Manchmal bespricht ist es jemand sogar - aber nein, nicht weil das Gedicht es wert ist, sondern weil es zum Mittel für den Rezensenten wird, um sich als Dienstleister oder Kulturpate zu inszenieren. Ab und zu wird ein Gedicht in sogenannten Anthologien veröffentlicht. Die Herausgeber entwickeln an den Haaren herbeigezogene Ausschreibungsthemen, für die sie Fremdwerke sammeln. Als Dichter hat man dabei oft Rechte abzutreten und sogar eine Teilnahmegebühr zu bezahlen. Ob Gedichte veröffentlicht werden, hängt nicht etwa von verbindlichen Qualitätskriterien, sondern von der Willkür der Herausgeber ab. Als Dank erhält man ein Belegexemplar, das der Dichter unter Umständen zu kaufen hat. Die Anthologien werden kaum verkauft, aber das ist ohne Belang. Entweder werden die Herausgeber ohnehin von einer Einrichtung gefördert oder die Anthologien dienen als Profilierungs- und Marketinginstrument. Der Dichter ist nur so lange brauchbar, wie er anderen nützt.
All das verdienen die sprachlich-künstlerisch Tätigen in gewisser Weise auch. Viele von ihnen schreiben massenhaft, veröffentlichen unreflektiert und erwarten, für ihre Leistung nicht etwa honoriert, sondern sofort hofiert zu werden. Die Menge an Vielschreibern, die sich um eine künstlerische Entwicklung nicht schert, ist riesig. Jeden Tag blasen sie mehrere Texte ins Internet - ähnlich denen, die Instagram und Co. mit Reels überladen. Qualität geht in der Quantität unter und verschwindet meist sogar. Anfänger orientieren sich an den Vielschreibern, weil sie irgendwelche präsentierte Zahlen als Erfolg und Können missinterpretieren. Freilich wird zum Dauerveröffentlichen auch KI genutzt, um das Pensum hochzuhalten. Und obwohl das Gedicht nicht selbst verfasst wurde, erhält es zum Schluss einen Autorennamen nebst einem Copyright-Vermerk. Die Dichter entwerten sich und das Dichten in einem verblendeten Streben nach Zahlen, Reichweiten und undefinierten Erfolgen selbst.
Die Bühne der Dichterwelt darf nur von wenigen, am besten nur von einem selbst besetzt werden. Andere Gedichte werden nicht zum Anlass genommen, zu genießen oder sich inspirieren zu lassen. Sie werden entweder ignoriert oder nur dann beachtet, wenn die Beachtung erwarten lässt, dass die eigene Arbeit letztendlich in den Blickpunkt gerät: Ich gebe dir ein Kompliment, um selbst ein Kompliment zu erhalten - Vetternwirtschaft im Kleinen. Im Kampf um Klicks, Shares, Views, Veröffentlichungen, Auftritte und Preise ist sich jeder selbst der Nächste. Schlecht wird hinter dem Rücken geredet. Es bilden sich Gruppen für oder gegen Autoren. Jeder ist der Nutznießer der Krise eines anderen. Kritik findet nur auf persönlicher Ebene statt. Konstruktive Kritik zu geben, sie aber auch auszuhalten und anzunehmen, vermag kaum einer mehr. Die Sache, das heißt das Kunstwerk, dessen Inhalt, Kontext und Absicht, interessieren nicht. Hier ist einer der Nährböden für die Cancel Culture zu finden.
Qualitäten sinken, die Massenproduktion von unterem Mittelmaß wird als Höchstform künstlerischen Schaffens missverstanden, der Narzissmus der Vielschreibenden wird zur akzeptierten Moral und das Miteinander schwindet. Das Gedicht und der Dichter verlieren zusehends an Kraft und Bedeutung. Und wenn das Kunst widerfährt, verlieren wir alle.
Das unsachliche, emotionalisierte Gegeneinander in Kunst und Kultur ist etwas, das sich in der deutschen Gesellschaft Jahrzehnte lang entwickelt hat. Die aktuellen Debatten, etwa um Kay Ray, sind nur die Spitze eines kulturell und gesellschaftlich bedrohlichen Eisberges. Und die Probleme und Gefahren, die sich für uns alle daraus ergeben, lösen wir nicht, wenn wir nur die Spitze betrachten.
15.12.25
©René Kanzler
René Kanzler (*1990) ist promovierter Philosoph, Literat und Fotograf. Er befasst sich mit der Philosophie der Stoa, der antiken Philosophie der Lebenskunst und Logik. Literarisch lässt er klassische Textgattungen mit modernen Inhalten sowie Karl Ranseier wiederaufleben. Er stellt darüber hinaus Texte zum literarischen Schreiben und allgemein zum Kulturleben in Deutschland bereit - alles in dem Bestreben, zu mehr Dialog aufzurufen und einen Prozess der (Selbst-)Reflexion zu ermöglichen.
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Was erhält der Dichter für seine umfangreiche, gesellschaftlich und kulturell wertvolle Arbeit? Wenn man nicht gerade im Dunste des Marketings und der Selbstbeweihräucherung von Preise verleihenden Stiftungen und Vereinen gelandet ist, ist die Antwort einfach: Nichts. Obwohl es sich um ein Kunstwerk handelt, das einen gehörigen tiefen und direkten Einfluss auf Menschen nehmen kann, ist es am Ende paradoxerweise nichts wert. Seit 2020 sagt man dazu ,,nicht systemrelevant", um sprachlich wohlgefällig die Geringschätzung künstlerischen Schaffens auszudrücken.
Nichts ist aber doch zu wenig. Man bekommt schließlich vielleicht ein Like, möglicherweise ein ,,Schön" als Kommentar. Manchmal bespricht ist es jemand sogar - aber nein, nicht weil das Gedicht es wert ist, sondern weil es zum Mittel für den Rezensenten wird, um sich als Dienstleister oder Kulturpate zu inszenieren. Ab und zu wird ein Gedicht in sogenannten Anthologien veröffentlicht. Die Herausgeber entwickeln an den Haaren herbeigezogene Ausschreibungsthemen, für die sie Fremdwerke sammeln. Als Dichter hat man dabei oft Rechte abzutreten und sogar eine Teilnahmegebühr zu bezahlen. Ob Gedichte veröffentlicht werden, hängt nicht etwa von verbindlichen Qualitätskriterien, sondern von der Willkür der Herausgeber ab. Als Dank erhält man ein Belegexemplar, das der Dichter unter Umständen zu kaufen hat. Die Anthologien werden kaum verkauft, aber das ist ohne Belang. Entweder werden die Herausgeber ohnehin von einer Einrichtung gefördert oder die Anthologien dienen als Profilierungs- und Marketinginstrument. Der Dichter ist nur so lange brauchbar, wie er anderen nützt.
All das verdienen die sprachlich-künstlerisch Tätigen in gewisser Weise auch. Viele von ihnen schreiben massenhaft, veröffentlichen unreflektiert und erwarten, für ihre Leistung nicht etwa honoriert, sondern sofort hofiert zu werden. Die Menge an Vielschreibern, die sich um eine künstlerische Entwicklung nicht schert, ist riesig. Jeden Tag blasen sie mehrere Texte ins Internet - ähnlich denen, die Instagram und Co. mit Reels überladen. Qualität geht in der Quantität unter und verschwindet meist sogar. Anfänger orientieren sich an den Vielschreibern, weil sie irgendwelche präsentierte Zahlen als Erfolg und Können missinterpretieren. Freilich wird zum Dauerveröffentlichen auch KI genutzt, um das Pensum hochzuhalten. Und obwohl das Gedicht nicht selbst verfasst wurde, erhält es zum Schluss einen Autorennamen nebst einem Copyright-Vermerk. Die Dichter entwerten sich und das Dichten in einem verblendeten Streben nach Zahlen, Reichweiten und undefinierten Erfolgen selbst.
Die Bühne der Dichterwelt darf nur von wenigen, am besten nur von einem selbst besetzt werden. Andere Gedichte werden nicht zum Anlass genommen, zu genießen oder sich inspirieren zu lassen. Sie werden entweder ignoriert oder nur dann beachtet, wenn die Beachtung erwarten lässt, dass die eigene Arbeit letztendlich in den Blickpunkt gerät: Ich gebe dir ein Kompliment, um selbst ein Kompliment zu erhalten - Vetternwirtschaft im Kleinen. Im Kampf um Klicks, Shares, Views, Veröffentlichungen, Auftritte und Preise ist sich jeder selbst der Nächste. Schlecht wird hinter dem Rücken geredet. Es bilden sich Gruppen für oder gegen Autoren. Jeder ist der Nutznießer der Krise eines anderen. Kritik findet nur auf persönlicher Ebene statt. Konstruktive Kritik zu geben, sie aber auch auszuhalten und anzunehmen, vermag kaum einer mehr. Die Sache, das heißt das Kunstwerk, dessen Inhalt, Kontext und Absicht, interessieren nicht. Hier ist einer der Nährböden für die Cancel Culture zu finden.
Qualitäten sinken, die Massenproduktion von unterem Mittelmaß wird als Höchstform künstlerischen Schaffens missverstanden, der Narzissmus der Vielschreibenden wird zur akzeptierten Moral und das Miteinander schwindet. Das Gedicht und der Dichter verlieren zusehends an Kraft und Bedeutung. Und wenn das Kunst widerfährt, verlieren wir alle.
Das unsachliche, emotionalisierte Gegeneinander in Kunst und Kultur ist etwas, das sich in der deutschen Gesellschaft Jahrzehnte lang entwickelt hat. Die aktuellen Debatten, etwa um Kay Ray, sind nur die Spitze eines kulturell und gesellschaftlich bedrohlichen Eisberges. Und die Probleme und Gefahren, die sich für uns alle daraus ergeben, lösen wir nicht, wenn wir nur die Spitze betrachten.
15.12.25
©René Kanzler
René Kanzler (*1990) ist promovierter Philosoph, Literat und Fotograf. Er befasst sich mit der Philosophie der Stoa, der antiken Philosophie der Lebenskunst und Logik. Literarisch lässt er klassische Textgattungen mit modernen Inhalten sowie Karl Ranseier wiederaufleben. Er stellt darüber hinaus Texte zum literarischen Schreiben und allgemein zum Kulturleben in Deutschland bereit - alles in dem Bestreben, zu mehr Dialog aufzurufen und einen Prozess der (Selbst-)Reflexion zu ermöglichen.
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