Fetisch verkaufen

Fetisch verkaufen

Der Mensch ist ein Tier. Ein Fluchttier, um genauer zu sein. Als solches hat er ein Alarmzentrum im Hirn, das verlässlich auf Paniken reagiert. Zu den kleinen Geschwistern der Paniken gehören die Schlagzeilen. Medien nutzen sie, um ihre Botschaften zu verbreiten. Im Zeitalter der Geschwindigkeit, um nicht zu sagen des Jetztseins, sind alle Medien dazu übergegangen, mit ihren Botschaften Paniken zu entfachen, deren Berechtigung wegen der hohen Geschwindigkeiten kaum noch jemand hinterfragt. Das können wir aber jederzeit. Meint Kai Blasberg.
Ende letzter Woche saß Saskia Esken bei Markus Lanz. Sie bekleidet, man kann es nur fassungslos zur Kenntnis nehmen, das Amt August Bebels. Willy Brandts. Ja sogar Hans Jochen Vogel fällt mir ein. Da sie dieses Amt nicht ausfüllen kann, hilft ihr der Gute-Laune-Bär aus Niedersachsen, der 2-Meter-Mann Lars Klingbeil beim Scheitern. Um es kurz zu machen: Lanz nahm Esken auseinander. Und es war unangenehm, dabei zuschauen zu müssen. Unter ihrer Amtsführung gelang es der SPD, ihr dürftiges Wahlergebnis der letzten Bundestagswahl zu halbieren. 13 komma irgendwas. Esken sieht aber wenig Handlungsbedarf. Weil sie sich nicht mit den Fakten beschäftigt. Weil sie hilflos daran teilnimmt, Unwahrheiten zu diskutieren. Eine dieser Unwahrheiten ist der derzeit populäre Fetisch Rechtsruck. Medien funktionieren wie Türsteher auf der Reeperbahn. Sie verdichten Trends bis zur Lüge, um die Gäste ins schäbige Etablissement zu locken, die dort Fürchterliches rezipieren müssen und mit Konsum von Überteuertem abgleichen sollen. Nach dem Fetisch ,,Fridays for future", als die junge Generation, die zu 90 % einen Scheiß auf die Anliegen Greta Thunbergs gab, als Alibi verhaftet war, wurde der Fetisch Grüne als Volkspartei geboren, dann kam ein Fetisch Ampel, der ebenso schnell verlosch wie der jetzige Fetisch Konservativ verlöschen wird. Dazwischen der Fetisch Verfassung, Ukraine, Kriegstüchtigkeit und der Fetisch Schuldenbremse, alles mit einer Gemeinsamkeit: Informationen in Form von Fakten werden nicht transportiert.
Lanz thematisierte den neuen Fetisch Rechtsruck, hier am Beispiel ,,Zukunftsangst: die Jugend rutscht nach rechts". Die Jugend hatte so wie alle anderen Zielgruppen auch zu 16 % die Trottel von der AfD gewählt. Nun muss man wissen, dass es von den ins Felde geführten 16-24 jährigen ungefähr halb so viele gibt wie von der Referenzgröße, den 56-64 jährigen, also den 40 Jahre älteren, den unter Demokratiegesichtspunkten gar nicht so unwichtigen, oft verspotteten, das Land finanzierenden, sehr vielen Boomer. Die 2000 bis 2008 geborenen Menschenkinder, sie lesen richtig, Letztere durften bei der untersuchten Europawahl politische Parteien wählen, haben einen durchschnittlichen Jahrgangswert von 650.000 Geburten aufzuweisen. Das mit 9 Jahren multipliziert, ergibt eine Zahl von unter 6 Millionen. Bei einer etwas niedrigeren Wahlbeteiligung der Jungen von etwa 60 % bleiben 3.6 Millionen, die Ihre Stimme abgaben. Davon sind 16 % für die AfD deutlich unter 600000 Wähler in der Altersgruppe 16-24. Die Boomer wurden viel geboren. Geschlechtsverkehr ohne Verhütung boomte. Man hatte ja sonst nichts. Auch keine Pille. Konrad Adenauer verstieg sich in den Zeiten seines Spätkanzlertums zur Aussage: ,,Jebooren wücht immer". Nichts war so falsch wie dieser Satz. Damals aber stimmte er. Die 1960 bis 1968 geborenen Deutschen haben ein Jahrgangsmittel von 1 komma drei Millionen Geburten, was bei ebenfalls neun Jahren Betrachtungszeitraum die Menge von fast 12 Millionen Menschen ausmacht. Sie gingen zu etwa zwei Drittel zur Wahl, also gaben etwas unter acht Millionen Boomer dieser Altersklasse ihre Stimme ab. 16 % wählten die Blauen, also round about 1.25 Millionen. 1.25 Millionen meist finanzstarker Boomer vs. weniger als 600.000 jungen, oft mittellosen Erwachsenen. Wie geht nochmal Demokratie? Die Mehrheit bestimmt?
Das alles ficht unsere Öffentlichkeitshandwerker, gleich ob Redaktionen oder Think-tanks in den Parteien nicht an. Der eine quäkt das Gewürge des anderen nach. Übrig bleiben die Desinformierten, die dieses üble Gebräu dann saufen, sprich bezahlen sollen. Themen werden erfunden und sollen nicht mit Wahrheiten überfrachtet werden, sonst wird ja keiner panisch. Und wo keine Panik herrscht, da lässt sich kein Fetisch verkaufen. Das Thema Migration funktioniert exakt genauso. Die armen Ukrainer sollen jetzt keine Unterstützung mehr bekommen. Was haben die uns denn jetzt getan? Irgendeiner aus der dritten Reihe stammelt was von ,,kein Geld", und es geht los. Die Talkrunden verdichten das Nichts und dann auf zur EM. Hier treffen sich Experten. Und Markus Söder. Weil: irgendwas zu fischen gibt es überall. Mitzuteilen aber nicht. Das ist Wegelagerei. Jetzt haben wir bald wieder den Fetisch ,,Angst vor den Deutschen", wenn uns der etwaige Erfolg zu Kopf steigen sollte, dann werden wir gefragt werden, ob zu viel von zu wenig genug ist; beim Wetter, dem Euro und chinesischen Autos. Ich kann's nicht mehr ertragen. Aber ich kann das auch nicht ändern. Aber ich kann wissen, dass das alles eine große Scheiße ist. Manipulation, mangelnde Sorgfalt und teilweise kriminelle Dummheit, weil niemand mehr weiß, wie es eigentlich geht. Der Verfall der Qualität des Personals kommt nur als Topping hinzu. Kleine Erinnerung, als die Boomer 16-24 waren, gab es Zukunftsängste en masse. Es begann schon in den 70ern mit der Punk-Bewegung, die als Leitspruch ,,no future" hatte. Der Film ,,When the wind blows", wohlgemerkt ein englischer Zeichentrickfilm mit der deutschen Synchronisation von Peter Schiff und Brigitte Mira und einem phantastischen Soundtrack von David Bowie, trieb wenige Monate nach Tchernobyl viele junge Deutsche in Suizidgedanken. Denn Mitte der Achtziger gab es nicht nur die beste Musik aller Zeiten, nein, wir starben auch Alle. Und das ständig. Nicht nur am Atomkrieg, der war als Fetisch sehr en vogue. Nein auch an Atomkraftwerken an sich, siehe Tchernobyl. Wem das nicht reichte, der war beim Fetisch Waldsterben und seinem sauren Regen gut aufgehoben. Und starb man nicht an Atom oder Natur, gab es ja noch Mutter Sonne. Die sollte uns nämlich verbrennen. Weil Mutti Haarspray benutzte und deswegen das Ozonloch Australien-Größe angenommen hatte. Und weil das alles nicht nach Lebensfreude roch, zog man seitens der auch damals funktionierenden Fetischindustrie knallhart durch: der Sex wurde uns durch einen Virus vermiest. Keine Corona. HIV. Und auch ein Wärmepumpen-Narrativ war existent: der Katalysator war als Sargnagel der deutschen Automobilindustrie ausgemacht, wie heute das heizen des Kleinbürgers Untergang sein wird.
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Es wiederholt sich alles. Nichts wird so heiß gegessen. Alles regelt sich. Alles wird gut.
Nur das mit der SPD und Saskia Esken: das können Sie vergessen!

21.06.24
*Kai Blasberg war 40 Jahre in den privaten Medien in Deutschland beschäftigt
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