Keine Zeit für Symbole

Keine Zeit für Symbole

Die Demos gegen Rechts ziehen Hunderttausende auf die Straße. Leider beginnt und endet ihr Engagement bei der Selbstbehauptung. Dabei ist eine Auseinandersetzung bitter nötig.

Von Bent-Erik Scholz
Vor fast genau zehn Jahren schütteten sich alle Internet-Nutzer, die etwas auf sich hielten, einen Eimer Eiswasser über ihre Köpfe. Die ,,Ice Bucket Challenge" war gedacht als eine Aktion, um auf die Krankheit ALS aufmerksam zu machen und Spenden zu sammeln. Prominente wie Privatpersonen machten den Versuch der Awareness jedoch immer mehr zum Spektakel: bald schon tauchte die Krankheit, um die es gehen sollte, nur als Randnotiz auf, gespendet wurde, wenn überhaupt, der Vollständigkeit halber.
Der Aktivismus, sich für die Bedürfnisse von Menschen mit einer schweren degenerativen Nervenerkrankung einzusetzen, wurde zu einem Mode-Trend, in dem der treibende Faktor zunehmend der Versuch wurde, sich in der Bildstärke der Aktionen zu übertrumpfen. Ein kanadischer Eishockey-Spieler ließ sich Gletscherwasser aus einem Hubschrauber heraus über den Kopf schütten. Dagegen wirkte ein österreichischer Skirenner, der seine Eisdusche aus der Schaufel eines Baggers empfing, fast bescheiden.
In der Frankfurter Rundschau schrieb Tanja Banner damals: ,,Mittlerweile schwappt die Eiskübel-Welle weiter, ohne dass noch großartig auf diesen ernsten Hintergrund hingewiesen wird. Bei der aktuellen Flut an Eiswasser in sozialen Netzwerken bekommt man den Eindruck, es werde nur noch Wasser geschüttet, um sich ins Gespräch zu bringen."
Heute scheint es so, als sei das Demo-Selfie der neue Eimer über dem Kopf. In großen und kleinen Städten quer durch die Nation gehen die Menschen auf die Straße, friedlich und im Einklang, und stellen sich gegen Rechtsextremismus im Allgemeinen, und die AfD im Speziellen. Der Anlass dafür ist die Berichterstattung um das Geheimtreffen, die - angeblich - für viele der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte und die ,,schweigende Mitte" davon abbrachte, weiter zu schweigen, um nun ein Zeichen zu setzen.
Schon hier könnte man eine gewisse Uninformiertheit unterstellen: Das, was die AfD plant, ist seit Jahren bekannt. Ihre Ideologie vertreten sie unverhohlen. Dass ihr Beteuern, eine bürgerlich-konservative Partei zu sein, unglaubwürdig ist angesichts derer, mit denen sich einzelne Mitglieder umgeben, wie einem Martin Sellner, kann man seit Jahren wissen.
Was ist Sinn und Zweck dieses Protests? Was antworten die Menschen vor Ort, wenn man sie fragt, wofür sie auf die Straße gehen? Sie antworten nicht selten in Slogans, in vielgehörten Phrasen, sprechen über die ,,Gefahr für die Demokratie", ohne das weiter konkretisieren zu können. Dies ist ein Symptom vieler Protestbewegungen, wird aber umso ärgerlicher, wenn es um etwas derart Wichtiges geht. Die AfD ist zu groß, als dass man sie mit diffusem Dagegensein bekämpfen könnte.
Der Satz, man wolle ein ,,neues 1933" verhindern, kursiert auf den Demos allenthalben. Das wäre lobenswert, würde diese Formulierung nicht in einem Umfeld von Plakaten fallen, auf denen Slogans stehen wie ,,Nazis essen heimlich Döner", ,,Die AfD ist braun, Kacke auch" oder ,,Fenster auf, es stinkt nach Pup, raus mit dem Nazibub". Kinder halten mit Sprüchen wie ,,Lilifee statt AfD" bemalte Pappen in die Höhe - die Demonstration als Familienevent. Dass sie begreifen, wohin die Eltern sie gebracht haben und zu welchem Zweck, ist zu bezweifeln. Als bei Querdenken-Demos die Protestierenden in Begleitung ihrer Kinder auftauchten, war dies 2021 ein regelrechter Skandal.
Unter Gleichgesinnten Gleichgesinntes in maximal abgeflachter Form zu rufen, oberflächlich einen gemeinsamen Gegner zu definieren und sich im Vergleich zu diesem Gegner selbst als heroischer Kämpfer zu inszenieren, fühlt sich gut an. Die Botschaft jedoch, die in diesen Protesten mitschwingt, geht über ,,Wir sind die Guten" leider nicht hinaus. Und um die Demokratie zu retten, wird es nicht ausreichen, immerfort ,,Zeichen zu setzen".
Alle paar Jahre wiederholt sich dieses Spiel: der ursprünglich als solcher gedachte ,,Protest gegen Rechts" wird zu einem popkulturellen Moment, gewinnt dadurch zwar an Zulauf, verliert jedoch an Aufrichtigkeit, und folglich auch an Nachhall. So auch bei ,,Wir sind mehr" 2018: in Chemnitz fand ein Gratiskonzert für 65.000 Besucher statt, es standen Bands wie Kraftklub oder die Toten Hosen auf der Bühne. Eine vergleichbare Aktion gab es seitdem nicht mehr. Hätte es an Anlässen gefehlt, erneut ,,ein Zeichen" gegen Rechts zu setzen? Bei der Bundestagswahl 2021 gingen 21,6% der Zweitstimmen aus Chemnitz an die AfD, womit sie zweitstärkste Kraft im Wahlkreis war. Wie schon 2017.
So, wie der Protest sich entwickelt, nützt er ausschließlich denen, die daran teilnehmen und sich laben können an der Bestätigung, die sie sich selbst geben. Plötzlich tauchen Regierungspolitiker unter den Demonstranten auf, die kurz zuvor noch ganz anderes verlautbarten. Ricarda Lang fotografiert sich selbst inmitten der Demo vor dem Reichstag, umgeben von ihren Bodyguards. Noch im September 2023 forderte sie mehr Tempo bei ,,Rückführungen" - und ,,Rückführung" ist ein Synonym für ,,Remigration" ist ein Synonym für ,,Deportation".
An einem gemeinsamen Post aller Parteien im Parlament, abgesehen von Linken und AfD, in dem der Hashtag #NieWiederIstJetzt auftaucht, beteiligte sich auch die CDU. Bei dem so genannten Geheimtreffen in Potsdam nahmen auch zwei Unionsmitglieder teil. Auch der Bundeskanzler positionierte sich auf Seiten der Demonstranten. Im Oktober wollte derselbe Olaf Scholz noch ,,endlich im großen Stil abschieben".
Es hilft, die Frage zu stellen, was die Teilnehmenden der Demos sich als Effekt ihres Protests erhoffen: Glauben sie ehrlich, durch ihr Handeln ließen sich AfD-Wähler davon abbringen, weiterhin für die Partei zu stimmen? Halten sie es für einen realistischen Gedankengang, dass jemand, der gestern noch den Hashtag #nurnochafd auf Twitter postete, sich heute denkt: ,,Ach, schau an, da sind Hunderttausende in Berlin, die mich als dummes, aus Kacke bestehendes Nazi-Arschloch bezeichnen. Ich glaube, sie haben einen Punkt."
Woran die aktuelle Protestwelle scheitert, ist, den AfD-Wählern zu erklären, dass die AfD auch schlecht für sie ist. Dass dies dem Protest nicht gelingt, liegt an seiner Oberflächlichkeit, sich pauschal ,,gegen Rechts" zu stellen, ohne konkret zu erfassen, was das bedeutet. Doch man muss seinen Feind kennen, um erfolgreich gegen ihn arbeiten zu können. Es gehört dazu, zu begreifen, was AfD-Politik in der Praxis heißt, und zwar nicht einfach nur 1933 2.0:
Die AfD steht für eine Politik der Absonderung, die sich auch in den Geldbeuteln bemerkbar machen wird, wenn Zölle steigen und sowohl Importe als auch Exporte teurer werden, was der Wirtschaft enorm schaden wird. Sie steht für die Streichung von Subventionen, was sie als Einsatz für den ,,fairen Wettbewerb" begreift, allerdings wohl eher zu einer Stärkung von Monopolen führen wird.
Sie steht auch für die Kürzung von Unterstützungen für Landwirte, die angesichts ohnehin steigender Kosten vor großen Problemen stehen. Sie befürwortet Reformen in den Sozialhilfen, angeblich, damit sich Arbeit mehr lohne, jedoch vor allem zu Ungunsten Hilfebedürftiger. Die AfD steht für eine regelrecht darwinistische Politik, in der der Stärkste überlebt.
Das passt leider nicht auf ein Demoplakat, und es bedarf eine Studie des Grundsatzprogramms. Die macht Arbeit und braucht Zeit, die man sich vielleicht nicht gern nimmt, wenn der Bekenntnisdruck schwer wiegt und eine politische FOMO sich Bahn bricht. Sich in den Tross der Gleichdenkenden zu begeben und den Dialog zu umgehen, indem man dem Gegenüber pauschal Dummheit und/oder Boshaftigkeit unterstellt, geht schneller, und wen interessiert schon die fortschreitende Spaltung der Gesellschaft (durch die die AfD nicht schwächer, sondern wohl eher stärker wird), wenn man auf der richtigen Seite der Spaltung steht?
Was macht einen überhaupt so sicher, auf der richtigen Seite zu stehen? Die eigenen Argumente? Oder der Zuspruch von Leuten, die ohnehin der gleichen Meinung sind? Glaubt man, es besser zu wissen, weil man sich besser informiert hat? Oder weil man sich in ein Umfeld begibt, in dem man keine Gegenrede erwarten muss? Wann immer es zu Demonstrationen und Bewegungen in dieser Größe und - leider - dieser inhaltlichen Banalität kommt, komme ich nicht umhin, zu denken: Sieh an, da trifft sich die Filterblase.
Vor kurzem rief ein Berliner Journalist ,,aus einer Laune heraus" im Bötzowviertel im Prenzlauer Berg dazu auf, regelmäßig Lichterketten gegen Rechts zu bilden. Für eine halbe Stunde standen am vergangenen Sonntag etwa siebzig Menschen mit Kerzen und kleinen Lichtern in der Hand auf der Straße. Im Wahlkreis, in welchem das Bötzowviertel liegt, fuhren die Grünen bei der letzten Bundestagswahl 36,7% der Zweitstimmen ein, SPD und Linke waren zweit- und drittstärkste Kraft, auf die AfD entfielen 4,1%. Laut einem Bericht im RBB betrachteten die Teilnehmer der Lichterkette die Demo als ,,Erfolg".
Einer der Teilnehmer des Potsdamer Geheimtreffens war der Unternehmer Hans-Christian Limmer, ein Mitbegründer der Backwerk Management GmbH. Er ist ein Beispiel für die Anschlussfähigkeit der AfD in die Wirtschaft, wo sie mit ihren kruden, nationalliberalen Inhalten durchaus auf offene Ohren stößt.
Kürzlich war ich am Bahnhof Friedrichstraße, unweit eines Protestmarschs am Brandenburger Tor in Berlin-Mitte. Im Bahnhofsgebäude tümmelten sich viele, die zur Demonstration dazustoßen wollten, immer neue Grüppchen kamen die Rolltreppen vom S-Bahngleis herunter und liefen in Richtung Unter den Linden. Am Kindertransportdenkmal sah ich zwei Menschen mit Pappschildern unter den Armen, die sich, kurz bevor sie gleich ,,Ganz Berlin hasst die AfD" skandieren würden, noch eine Stärkung gönnen wollten. Beide hielten Backwerk-Pappbecher in der Hand.

07.02.24
*Bent-Erik Scholz arbeitet als freier Mitarbeiter für den RBB
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