Schlechte Zeit für Frieden

Schlechte Zeit für Frieden

Finnische Sozialdemokraten reden unverhohlen von einem ,,Wir" im Krieg gegen Russland, derweil wird die Wehrpflicht rhetorisch zunehmend salonfähiger gemacht, Russland wirft den USA direkte Beteiligung an Angriffen auf die Krim vor, die roten Linien fallen immer mehr. Wo bleibt der Sturm der Entrüstung, die Bürgerbewegung, der Widerstand?

Von Bent Erik Scholz
Dass die fehlende Aufmerksamkeit für politische Entscheidungen während sportlicher Großereignisse gern missbraucht wird, um Unliebsames durchzusetzen, ist ein altbekanntes Prinzip. Während der WM im eigenen Land erhöhte Deutschland heimlich, still und leise die Mehrwertsteuer, während dem World Cup in Südafrika 2010 die Krankenkassenbeiträge. Derzeit erleben wir etwas Vergleichbares und doch Abstrakteres, nämlich ein deutliches rhetorisches Umschwenken, das sich während der in Deutschland stattfindenden EM einzuschleichen versucht. Es bedarf unserer Wachsamkeit, diese sprachlichen Kriegserklärungen zu erkennen, und es böte deutlich mehr Anlass zur Empörung als Trikotfarben, weibliche Kommentatoren, oder die U-Bahn vollkotzende Fußballfans.

Wenn die CDU zum Beispiel plötzlich die Forderung aufstellt, männlichen ukrainischen Geflüchteten die Sozialleistungen zu entziehen, wenn diese davor fliehen, in der Ukraine an die Front zu gehen, dann sollte uns das nachdenklich stimmen: Wurden die Flüchtlinge aus der Ukraine zuerst mit Solidarität und Sonderleistungen überhäuft, während man Menschen, die aus Afrika genauso vor Krieg geflüchtet waren, weiter in Lager gestopft wurden, so bekommen die Ukrainer nun die kalte Wahrheit serviert. Dass es eben nicht, wie so oft mantraartig wiederholt, um die ,,Menschen in der Ukraine" geht, sondern der ukrainische Mensch, sofern er männlich und geflüchtet ist, im Zweifel eben nicht schützenswert, sondern ein Schmarotzer ist, der sich seiner Bestimmung entzieht, für so etwas Diffuses wie ein Land, europäische Werte, oder die Freiheit zu sterben.

Abschieben in Kriegsgebiete. Vor wenigen Jahren hätten diejenigen, die das heute fordern, sich über solche Ideen völlig zu Recht empört. Es ist ein Skandal, dessen Ausmaß viel zu wenig beachtet wird. Türkische Eigentore machen sich eben knackiger in den Titelzeilen.

Zunehmend lauter wird auch das Geraune um die Wehrpflicht. Mehr und mehr wird es zum Grundrauschen, und wie das eben mit Grundrauschen so ist, tendiert man, es notfalls auszublenden. Das ist gefährlich. Wir müssen jeden Versuch unterbinden, diesen Schwachsinn, der von allen Parteien von AfD bis Grüne gerade wieder lanciert wird, erneut auf den Tisch zu bringen. Das zaghafte Tasten von Boris Pistorius ist ein durchschaubares Manöver - es funktioniert wie mit allen politisch bestimmten größeren Einschnitten in unser Leben der letzten Jahre: mit kleinen Schritten, die wir für verschmerzbar halten, werden wir mehr und mehr zur Akzeptanz dressiert, bis wir denken: ,,Ach, das kleine Schrittchen mehr macht auch keinen Unterschied." Von Coronamaßnahmen bis Waffenlieferungen an die Ukraine - diese Abrichtung funktioniert immer gleich. Am Anfang hat Deutschland noch Helme geliefert.

Markus Söder sagte, der Militärdienst habe noch niemandem geschadet - dasselbe behauptete man früher über Schläge in der Erziehung. Ich persönlich halte es nur für bedingt klug, einer durch die Corona-Pandemie hochgradig psychotischen jungen Generation Schusswaffen in die Hand zu drücken. Das ist aber zweitrangig, denn auch hier ist die Schlagrichtung beängstigend: die potenzielle Notwendigkeit einer umfangreichen Selbstverteidigung wird immer lauter betont, was auch bedeutet: Es wird immer offener mit einem bevorstehenden Krieg kokettiert.

Die Aussetzung der Wehrpflicht war das Resultat eines Kampfes einer Bevölkerung gegen die Vereinnahmung durch den Staat, in den sie hineingeboren wurde. Es ist ein erstrittenes Gut, sich nicht länger unfreiwillig in den Dienst seines ,,Landes", was auch immer das bedeuten soll, stellen zu müssen. Was bitteschön soll Deutschland sein, als dass ich meine Jugend, meine Leibeskraft, vielleicht sogar mein Leben aufs Spiel setze? Diejenigen, die den Krieg am stärksten anfeuern, sind nie diejenigen, die ihn zu kämpfen haben. Wer bin ich, mich selbst zur Disposition zu stellen für die Interessen einer Regierung, deren Verhalten ich, abseits des Urnengangs alle paar Jubeljahre, nicht kontrollieren kann?

Man neigt als Mensch dazu, all das hinzunehmen, aus Selbstschutz auszublenden, zu kapitulieren vor der scheinbar erdrückenden Macht der sich drehenden Spirale, die auch seitens des Westens sehr wohl fleißig angekurbelt wird. Als letzte Woche die Bildzeitung titelte: ,,Für Ukraine-Einsatz: Nato baut Hauptquartier in Wiesbaden auf" - da nahmen wir das hin. Es handle sich bei diesem Einsatz ja nur um weitere Waffenlieferungen, nicht um den Einsatz von Truppen. Doch wenn man uns jetzt auch im Hinblick auf solche Vokabeln wie ,,Einsatz" sensibilisiert, sollten wir ausgesprochen beunruhigt sein. Niemals dürfen wir zulassen, dass uns derlei Kampfgeplapper nicht mehr anfasst. Wann immer wir Gelegenheit haben, müssen wir uns bewusst werden: Das ist nicht normal. Das ist nicht gut.

Der Progressive Governance Summit ist eine Versammlung der europäischen Mitte-Links-Parteien, die in der letzten Woche in Berlin stattfand. Olaf Scholz trat vor seinen sozialdemokratischen Kollegen als Redner auf, klug dahererzählt wurde von der Bedrohung der Demokratie durch den Kapitalismus - ein bisschen Maskerade muss man schließlich aufrechterhalten. Verräterisch wird es jedoch an anderer Stelle, wenn die finnische SDP-Politikerin Tytti Tuppurainen Sätze sagt wie diese: ,,Russland muss den Krieg verlieren. [...] Dafür müssen wir als erstes Russland auf dem Schlachtfeld in der Ukraine besiegen. Dafür ist es höchste Zeit, dass Deutschland Taurus-Raketen liefert."

Wir. Sie hat tatsächlich ,,wir" gesagt. Sie hat vom Schlachtfeld gesprochen. Das ist kein Baerbock'scher Versprecher, niemand greift diese Formulierung auf, niemand empört sich darüber. Ein Mitglied des Parlaments eines Landes, das seit kurzem in der NATO ist, erklärt lapidar den Westen zur Kriegspartei, und dieser horrende, fürchterliche Ausruf verpufft ohne Echo. Eine Sozialdemokratin überdies.

Vor einigen Monaten war Paul Ronzheimer in meinem Podcast ,,Die gute Gesellschaft" zu Gast, und natürlich sprachen wir über die Ukraine. Damals sagte ich zu ihm: ,,Aber wir sind uns ja sicherlich einig, dass ja mittlerweile das Ding nicht nur mehr Russland und die Ukraine umfasst, sondern das ist da auch ein Stellvertreterkrieg mittlerweile."

,,Naja", sagte er, ,,das ist das, was Putin daraus macht. Also Putin sagt halt, er führt einen Krieg gegen den Westen. Es gibt hier keine Truppen aus dem Westen. [...] Aber natürlich macht Putin seit Langem daraus etwas, dass er diesen Krieg gegen die NATO, gegen den Westen führt. Das ist ja das, womit er innenpolitisch hochpeitscht und wo er dafür sorgen will, dass die Russen in welcher Form auch immer sagen, ja, Putin hat recht und wir wollen unser Sowjetreich zurück. Also wir müssen aufpassen, dass wir da nicht in seine Falle tappen."

Das stimmte schon im Februar 2024 nur zur Hälfte. Wenige Tage nach unserem Gespräch wurde durch die Taurus-Leaks offensichtlich, dass sich eben doch Soldaten aus westlichen Ländern in der Ukraine befanden, nicht zuletzt, um dortige Truppen auszubilden. Seitdem ist jedoch klar: nicht nur Putin behauptet, in Wahrheit den Westen zu bekämpfen - der Westen selbst geht unverhohlen offen damit um, Teil dieses Kriegs zu sein. ,,Wir müssen Putin auf dem Schlachtfeld besiegen" aus dem Mund der ehemaligen finnischen Europaministerin ist eine Kampfansage, die ihresgleichen sucht.

Die Luft brennt ganz gewaltig, und das liegt eben nicht nur daran, dass im Kreml ein chauvinistischer Diktator sitzt. Wer nach der Logik ,,Aber XY hat angefangen!" agiert, argumentiert nicht nur wie ein Grundschüler, gerade im Bezug auf die Ukraine verleugnet man hiermit gar relevante Teile der Geschichte der letzten dreißig Jahre. Und man vernachlässigt, wie Stück für Stück auch durch den Westen Grenzen überschritten wurden. Man muss aktiv ignorieren, dass die Untersuchungen des Anschlags auf die Nordstream-Pipeline praktisch seit Februar diesen Jahres eingeschlafen sind, nachdem Indizien auf eine ukrainische Beteiligung an der Sprengung hindeuteten. Man muss taub sein für die Zuspitzung der Aussagen führender westlicher Politiker seit dem 24.02.2022, und man muss blind sein für die Interessen, die mal mehr, mal weniger offenherzig preisgegeben werden.

Doch wir müssen diese Abstumpfung mit Händen und Füßen abwehren. Wir können es nicht länger zulassen, dass dümmliche wiedergekäute Phrasen wie ,,Putler" und ,,RuZZland" unseren Diskurs über einen Konflikt bestimmen, der mehr und mehr auch in unsere Richtung ausartet. Wir müssen uns immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass es einen frappierenden Unterschied macht, ob man die Ukraine schützen oder Russland besiegen will. Der Blick auf die Politik der letzten zwei Jahre sowie die neuerliche, absurde Koketterie mit der Rückführung wehrpflichtiger Ukrainer macht deutlich: hier sollen nicht die Ukrainer verteidigt werden - sie werden vielmehr verschlissen, um Russland zu bekämpfen. Der Westen hielt das angegriffene Land die längste Zeit gerade so über Wasser. Doch wie soll man die Ukraine bis auf den letzten Ukrainer verteidigen, wenn alle, die in den nicht eroberten Städten hätten leben können, an der Front erschossen wurden, um ,,Putin in die Knie zu zwingen"?

Wir dürfen uns nicht einwickeln lassen in dieses Netz aus Worthülsen, die zunehmend drastischer werden. Wir müssen die Mächtigen auf ihr Wort festnageln, wenn sie sich gegen den Willen ihrer Bevölkerung aus der Sicherheit des Elfenbeinturms heraus zu derart aufpeitschender Rhetorik versteigen. Dazu braucht es keine Putschversuche, keine Gewalt oder hohle Parolen. Der wichtigste Schritt ist das Aufrechterhalten der inneren Reinheit - das konstante Bewusstsein: Dies ist nicht normal. Es braucht den Ausdruck eines höflichen, aber bestimmten ,,Nein" mit den Mitteln, die die Demokratie hergibt. Wer keinen Krieg will, ist jetzt in der Verantwortung, seine Mitmenschen darauf hinzuweisen, was es bedeutet, wenn der Krieg der Sprache kippt in die direkte Konfrontation mit Waffen.

26.06.24
*Bent-Erik Scholz arbeitet als freier Mitarbeiter für den RBB
Kommentare
  • Christine Toma
    27.06.2024 19:25
    Danke für diesen tollen Text. Ich will keinen Krieg und genau deshalb versuche ich mich in meiner Stadt im örtlichen Friedensverein bei Aktionen miteinzubringen und habe mir Shirts mit Friedens-Symbolen besorgt: Die weiße Taube auf blauem Grund, Käthe Kollwitz "Nie wieder Krieg" oder "Frieden schaffen ohne Waffen" sind darauf abgebildet - eigentlich bin ich kein Typ für Motto-Shirts, ;) aber ich denke zumindest kurz denkt man darüber nach wenn man darauf blickt. Gleichzeitig gehe ich so oft es geht darüber mit anderen ins Gespräch, auch wenn viele es verdrängen, es beschäftigt letztendlich jeden gerade. Laut Umfragen sind wir mittlerweile in der Mehrheit die einen raschen Verhandlungsfrieden wollen. Nur die Politik agiert anders. Deshalb bräuchte es dringend! mehr und v.a. große Friedens-Demonstrationen in allen Städten um Druck aufzubauen.
  • Johannes
    26.06.2024 14:16
    Puh…
    Lieber Bent-Erik,
    der Artikel liest sich wie ein Rezept aus einem One-Pot Kochbuch.
    Alles in einen Topf, gut aufkochen - fertig.

    P.S. Ein Land bzw. die Ukraine und dessen Grenzen sind nichts Diffuses. Diese wurden festgelegt. Bitte nochmal die UN-Charta lesen, sollte aber bekannt sein, oder? Auf was sollen wir uns denn hier in Europa verständigen, wenn nicht auf die territoriale Unversehrtheit, die seit dem geschützt gehört.
    Mach Deiner Argumentation können wir dann gleich alles über den Haufen schmeißen, aus Angst vor einem möglichen Krieg.

    Dies, mein lieber, würde nur noch zu mehr Verletzungen der territorialen Grenzen führen. Zu mehr Leid. Zu mehr Tod. Als ob Typen wie Putin aufhören…lol ernsthaft. Welcome to Reality.
    Der Westen hätte schon 2014 geschlossen und entschlossen der russischen Aggression entgegen treten sollen.
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