Sylt und Sühne

Sylt und Sühne

Eine Handvoll wohlstandsverwahrloster Rich Kids suhlt sich im eigenen Behütetsein und machen sich in ihrer grenzenlosen Dummheit, sich beim Rumhitlern zu filmen und zu posten, zur Sau, die durchs Dorf getrieben wird. Ist die Empörung gerechtfertigt?
von Bent Erik Scholz
In seinen Büchern beschreibt der berüchtigte amerikanische Autor Bret Easton Ellis immerfort 80er-Jahre-Kinder reicher Eltern, die im Sunset Strip oder den Hollywood Hills bekifft, besoffen und zugekokst in den von Mami und Papi bezahlten Villen sitzen und es sich auf deren Kosten gut gehen lassen, während die Eltern - Business, Jetset-Life, Kosmopoliten - im Grunde nie zu Hause sind. Alle diese Kinder verlieren jedes Gespür für maßvolles Leben. Sie alle sind hochpotente Teenager, alle sehen sie fantastisch aus, sonnengebräunt und gut gebaut - sie gehen nicht zu McDonald's, sie essen Filet Mignon - sie haben Sex, schniefen Kokain zum Wachwerden und schlucken Quaaludes zum Einschlafen. Sie können nicht lieben, weder andere noch sich selbst, sie sind materialistische Soziopathen, deren Lebensinhalt in der Pflege der Hülle besteht.

Online kursiert seit einer Woche ein Video, das eine Handvoll gut gekleideter Leute, schätzungsweise Anfang 20, zeigt, die laut die mittlerweile zum Meme verkommene Sentenz ,,Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!" mitgrölen, sichtlich betrunken vor Freude an der eigenen Coolness und Gewitztheit, es ist das deutsch-bierselige Schlagermitgrölgesicht, das sich schweißglänzend und arrogant auf dem Bildschirm abzeichnet. Dieser Pseudo-Gag für deutschtümelnde Hobby-Sarkasten ist nicht neu. Er kursiert seit Monaten. Da tanzen sie, in ihren Markenklamotten, in einem nobel aussehenden Club auf Sylt, und strahlen mit voller Energie aus, wie geil sie sich selbst finden. Ein junger Mann legt sich zwei Finger der linken Hand unter die Nase, eine gängige Geste, um ein Hitlerbärtchen anzudeuten. Der rechte Arm zeigt ausgestreckt nach oben.

Berechtigterweise reagiert die breite Internet-Öffentlichkeit auf derlei stumpfes und dämliches Gebaren mit Ekel. Doch damit begnügt man sich nicht - während sich nämlich zunehmend auch ranghohe Politiker in die Debatte um das Sylt-Video einklinken, entsteht der Eindruck, dass die saudumme Aktion der sich unantastbar Fühlenden regelrecht zur Gesinnungsfrage hochgejazzt wird. Glaubt man den sich ewig solidarisierenden Moralaposteln, haben wir es hier beinah mit einer rechtsextremistischen Großtat im Ausmaß von Rostock-Lichtenhagen zu tun. Nancy Faeser fordert Höchststrafen für die Rich Kids von Sylt.

Der sonstige Partyhit ,,L'amour toujours" wird bereits jetzt schon vorsichtshalber von Großveranstaltungen verbannt, belegt gleichzeitig Platz 1 der iTunes-Charts. Die Rockband Kraftklub und die Rapgruppe K.I.Z kündigen Solidaritätskonzerte an - noch 2020 rappten K.I.Z Zeilen wie ,,Das ist keine Erektion, sondern ein Unterleib-Hitlergruß". Die unerzogenen Insel-Blagen werden zum Symbol des rechten Terrors und damit zu einer weiteren Plattform für Polit-Influencer, Pseudo-Kabarettistinnen und andere sich selbst für gut haltende Menschen, einander fröhlich Haltungsnoten mit Fleißbienchen zu geben.

Ist das angemessen? Und ist es angebracht, diese offenkundig hochgradig verzogenen jungen Erwachsenen als Nazis zu bezeichnen? Oder sind es nicht einfach ein paar abgehobene Idioten, die sich für unangreifbar hielten und entsprechend wohl verdient einen deftigen Klaps bekommen? Der Hitlergruß ist sehr zu Recht verboten, es ist richtig, sie zu ahnden - es ist richtig, dass die Sylt-Kids Konsequenzen für ihr Handeln erfahren. Dass sich auf Basis ihres ausgesprochen dämlichen Verhaltens nun aber der große neue Sturm der Litaneien und Symbolakte zusammenbraut, stimmt nachdenklich.

Seit Jahrzehnten ist die Koketterie mit Nazi-Symbolik die maximale Provokation, und sie wird zu diesem Zwecke auch von solchen benutzt, die nachweislich mit der dazugehörenden Ideologie nichts zu tun haben. Die Sex Pistols spielten in den 70ern einen Song mit dem Titel ,,Belsen Was A Gas", Sid Vicious sorgte durch das Tragen eines Hakenkreuz-Shirts für Furore. Nazi-Parodie als Shock Value.

Auch hierzulande lachten wir noch bis vor zehn Jahren herzlich über das Spiel mit Nazi-Referenzen. In den bis heute als legendär geltenden ,,WiXXer"-Filmen von Oliver Kalkofe spielt Christoph Maria Herbst die Figur Alfons Hatler. Eine Szene zeigt ihn im Trainingsanzug bei der rhythmischen Sportgymnastik, bei der er immer wieder den rechten Arm in die Luft wirft. Verfallen in ein österreichisches Knödeln mit gerolltem R und Stakkato-Rhythmus war lange Zeit ein Garant für Schmunzler. Hitler war zu einem Gespenst geworden, das man immer wieder aus dem Schrank holte, um das Publikum zu erschrecken, aber auch zu belustigen.

Sind wir verweichlichter geworden? Oder muss man anerkennen, dass die Zeiten sich insofern geändert haben, als dass tatsächlich solche Parolen und verlachende Rückblicke auf Nazi-Gehabe nicht mehr mit der gleichen Leichtigkeit möglich sind? Schließlich mahnte uns der Zeitgeist der letzten fünfzehn Jahre, dass die Ideen der Nazis eben nicht mehr nur dann rezitiert werden, wenn es darum geht, sich aus historischer Distanz über sie lustig zu machen und sie zu entkräften. Wenn Björn Höcke genüsslich grinst, nachdem er verlautbart, man müsse seine Gegner ,,ausschwitzen", ist klar, dass es hier nicht mehr nur um ein Spiel geht.

Es ist gut, solche Tendenzen zu erkennen. Hier jedoch entzündet sich die Debatte an einer Gruppe alkoholisierter junger Erwachsener, die mit Sicherheit Dummheiten mit potenziell strafrechtlicher Relevanz betrieben hat - doch ich bin sicher: die Motivation hinter diesem strunzdoofen Manöver war mehr ,,Ich mach, was ich will, niemand kann mich daran hindern, zur Not bezahlt Papa die Anwälte, höhö". Es sind Menschen, die so übersättigt sind, dass das Erwischtwerden beim Imitieren von Nazi-Symbolen zu den wenigen Dingen gehört, die sie wirklich gefährden könnten. Gerade dies macht es womöglich reizvoll. Ist das ein abstoßender Habitus und gönnt man Menschen, die sich so benehmen, einen Denkzettel? Ja. Aber wir müssen uns auch die Frage stellen, wie verhältnismäßig die Reaktion darauf ist.

Hochschulen prüfen Exmatrikulationen, Arbeitgeber sprechen Kündigungen aus, Klarnamen und Wohnorte geistern durchs Internet, Bundeskanzler und Minister haben sich geäußert, eine riesige Welle aus Zeigefingern überflutet die Nordseeinsel. Alle dürfen einmal sagen, wie abscheulich das alles ist, und jeder darf seinen Selbstwert daraus ziehen, sich im Vergleich zu den ,,deplorables" besser zu fühlen.

Marie von den Benken postet ein Bild mit freiem Oberkörper am Stand mit dem Hashtag #NacktGegenNazis. Die Besitzer des Lokals Pony auf Sylt berichten derweil von Morddrohungen. Es gibt an dem im Video Gezeigten wahrlich nichts zu beschönigen - doch sollten wir uns als Gesellschaft durchaus fragen, ob es unser Ziel sein kann, dass solche Fehltritte, und seien sie auch noch so daneben, möglicherweise unwiderruflichen, lebenslangen Schaden nach sich ziehen. Was die Schickimicki-Macker brauchen, ist wahrscheinlich der Reality Check, den ihnen ihre Erziehungsberechtigten bisher nicht geben konnten. Wenig hilfreich wird es sein, sie aus der Gesellschaft zu verbannen.

Der rechtspolitische Korrespondent des Tagesspiegels, Jost Müller-Neuhof, schreibt: ,,Wenn es um Rechtsextremismus und Antisemitismus geht, muss ein schnelles Urteil her. Das passt oft, aber passt es immer? [...] Doch wenn keine Straftaten begangen wurden, die Kündigungen rechtswidrig sind? Egal, das Urteil ist gesprochen, wir können wegsehen. Die Schnösel sind selbst schuld. Sollte so der ,Kampf gegen Rechtsextremismus' aussehen, man möchte nicht daran beteiligt sein."

Geht es hier vielleicht auch um Schadenfreude? Endlich mal denen einen Zacken aus der Krone brechen, die diese besonders stolz vor sich hin getragen haben, die Übermächtigen und Übermütigen sich an ihrem Stolz verschlucken lassen. Dieser Impuls ist verständlich, doch wann immer er sich in Moral-Debatten Bahn bricht, erleben wir menschlich Fragwürdiges. Der Unterschied zwischen dem Strafrecht und dem Urteil der Masse: das Strafrecht gesteht eine Rehabilitation nicht nur zu - es sieht sie vor. Die öffentliche Meinung ist bedeutend ungnädiger, wenn es darum geht, Läuterung zu akzeptieren.

Die Sylt-Kids sind leichte Beute, nichts ist einfacher, als sich lautstark von ihnen zu distanzieren, um sich über sie zu erheben, während man sie gleichsam nach unten drückt. So geschmacklos die gegrölte Phrase und die Tänze sein mögen - sie zum Politikum zu erheben, perpetuiert dieselbe oberflächliche Symbolzelebrierung, die schon dafür sorgte, dass die Proteste gegen Rechts Anfang des Jahres ohne größeres Echo versickerten.

Wie bei allen vergleichbaren Diskussionen über derlei zwar widerliche, aber im Gesamtkontext banale Zwischenfälle müssen wir uns die Frage der Verhältnismäßigkeit vor allem im Kontext dessen stellen, welche anderen Nachrichten wir in der Zwischenzeit überhören. Aufmerksamkeit ist schließlich ein begrenztes Gut, nicht umsonst wurden in der Vergangenheit unbeliebte politische Entscheidungen gern mal im Zeitraum von sportlichen Großereignissen getroffen, um in der Berichterstattung entsprechend unterzugehen.

Während also Olaf Scholz solche ,,Parolen" als ,,eklig" bezeichnet (nur damit seine Partei kurze Zeit später eine Interpolation dieser Parole als Werbung für die Europawahl postet), hat die NATO dazu aufgerufen, der Ukraine die Nutzung westlicher Waffensysteme gegen Ziele in Russland zu gestatten. Während wir genau wissen, wer die Arbeitgeber einiger Champagner-Cretins aus einem Online-Video sind, können wir bis heute nur darüber mutmaßen, wer die Geldgeber so mancher Politiker sind, die derzeit wichtige Funktionen in Europa anstreben. Während wir eine Handvoll Schnösel zum Symbolbild für Nazis erheben, formieren sich tatsächlich allerorten rechtsnationale Kräfte und schmieden bedrohliche Allianzen.

Wir müssen mit unseren Begriffen vorsichtig sein. Der Terminus ,,Nazi" steht auch für sechs Millionen ermordete Juden. Eine gewisse Sparsamkeit mit diesem Wort wäre angebracht, damit es nicht durch Inflationierung seine ganze Kraft verliert, wenn wieder wahrhaftig obskure Gestalten nach Machtpositionen in Deutschland greifen.

31.05.24
*Bent-Erik Scholz arbeitet als freier Mitarbeiter für den RBB
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