Wir haben die Orientierung verloren

Wir haben die Orientierung verloren

Was ist der Grund für eskalierende Problemlagen auf der Welt? Die Antwort ist ganz einfach: Wir haben die Orientierung verloren.
Das Phänomen sitzt so tief, dass man von einem grundmenschlichen Wesenszug sprechen muss. Die restliche Tierwelt vertraut auf ihr angeborenes Reiz-Reaktions-Schema, um sich im Leben zurechtzufinden. Wir haben uns durch unseren Verstand von diesem
Schema gelöst, unsere animalischen Triebe jedoch haben wir nicht hinter uns gelassen. Sie sind Antrieb für die Entwicklung von Technik, die das Aufkommen von modernen Gesellschaften ermöglicht hat.

von Sascha Schlüter
Menschliche Zivilisation beruht auf der Nutzung von Technik. Angefangen mit der
Herstellung von Werkzeugen, der Beherrschung des Feuers, dem Kultivieren von Landwirtschaft, der Herausbildung von Industrien, bis hin zur Digitalisierung der heutigen Tage - jede dieser Technologien bringt gewaltige soziale Veränderungen mit sich, die jeweils völlig andere Gesellschaften zur Folge haben. Dabei treiben wir die Entwicklung von Technik so weit, dass wir künstliche Bedürfnisse erschaffen haben, die unsere natürlichen bei weitem überschatten. Für die Befriedigung von natürlichen Bedürfnissen des Menschen braucht es Dinge wie eine vollwertige Nahrung, sauberes Wasser, soziale Intimität, eine intakte Umwelt, körperlichen Wärmeerhalt, eine Denk- und Handlungsfreiheit und ein sinnerfüllendes Tätigkeitsspektrum. Künstliche Bedürfnisse dagegen weisen auf ein ungesundes Verhältnis hin, welches negative Auswirkungen für den Menschen hat. Zum vermehrten Aufsuchen von jenen künstlichen Bedürfnissen kommt es aufgrund unserer animalischen Triebstruktur, die sich von neuen technischen Mitteln ein verbessertes Überleben und Fortpflanzen erhofft. Dieser Zusammenhang ist aber oft ein Trugschluss, da unsere Instinkte auf eine relativ technikarme Umgebung evolutionär angepasst sind, und wir die Auswirkungen neuester Technik ohne große Reflexionsanstrengungen nicht richtig einschätzen können. Evolutionsgeschichtlich hat der Mensch innerhalb kürzester Zeit epochale Technologien wie die Landwirtschaft, den Städtebau, eine hochentwickelte Waffentechnik, Industriemaschinen und digitale Computer erfunden, die unsere Gesellschaften massiv verändert haben. Der zentrale Unterschied zum Tier, der es dem Menschen ermöglicht hat, Zivilisationen aufzubauen, ist seine einzigartige Fähigkeit zum Innehalten und Planen, um noch 'intelligenter' und nachhaltiger einem Hedonismus, einem Eskapismus und einer Bequemlichkeit nachzueifern, welche auch im restlichen Tierreich als Triebe verankert sind. Erst durch die kognitive Revolution des Menschen wurden wir in die Lage versetzt, so etwas wie 'Sünden' zu begehen und Chaos in die Welt zu setzen. Krieg z. B. ist im Kern nichts anderes, als ein mit hochentwickelter Waffentechnik geführter Konflikt, organisiert von triebgesteuerten Herrschern, der das Ziel hat begehrte Ressourcen zu ergattern, die die Fortführung der technischen Entwicklung und damit die Steigerung des Konsums
sicherstellen sollen.

Grund für das vermehrte Aufsuchen von künstlichen Bedürfnissen und die gleichzeitige Vernachlässigung von natürlichen Bedürfnissen ist der Verlust einer verlässlichen Orientierung, die beim Übergang vom Affen zum Menschen verloren ging. Durch die Ausbildung des Verstandes, der sprachlichen sowie technischen Fähigkeiten, distanzierten wir uns vom restlichen Tierreich. Während Tiere sich weiter unbewusst verhalten, fing der Mensch an, reflektiert zu handeln. Damit aber wurde neben den positiven Errungenschaften gleichzeitig ein weites Möglichkeitsfeld an schädlichen Aktivitäten eröffnet, welches eine ganze Reihe von neuartigen Problematiken mit sich brachte. Dazu gehören u. a. ökologische Auswirkungen, polarisierende Debattenkulturen, die Verbreitung von Krankheiten, ein entfremdetes Arbeitsleben, und ein Zusammenbruch von intimen Familienstrukturen.

Eine mögliche Antwort auf den Orientierungsverlust, der für globale Problemlagen verantwortlich ist, sind die Religionen. Das, was sie so attraktiv für den Menschen machen, sind ihre festgeschriebenen Werte und Normen. Dasselbe gilt für andere Ideologien, Dogmen und Weltanschauungen. Wir klammern uns an solche Denkgebäude, weil sie uns genau das geben, was wir als Menschen im Vergleich zur restlichen Tierwelt verloren haben.

Trotz des Orientierungsverlustes werden wir weiterhin von animalischen Grundinstinkten geleitet, die unser Überleben und Fortpflanzen sicherstellen. Sie sind unseren Handlungsentscheidungen vorgeschaltet, und Grundvoraussetzung für Reflexion und Abwägung. Der Evolutionspsychologe Douglas J. Lisle (PhD) fasst die instinktive Anreizstruktur von Tieren in der sogenannten "Motivations-Triade" zusammen: Jedes Tier, inklusive dem Menschen, wird durch drei zentrale Wirkmächte beeinflusst. Es sucht Lust auf, vermeidet Schmerzen, und spart eigene Körperenergie. Ohne die Lust beim Essen und Sex, ohne die Angst vor Schmerzen bei einem Raubtierangriff, und ohne den eingebauten Energiesparmodus des Menschen, der ihn dazu bewegt möglichst sparsam mit der eigenen Körperenergie umzugehen, wüsste er nichts darüber, wie er seine Fortexistenz auch in Zukunft sicherstellen kann.

Die Technik hat uns als Menschen dazu bemächtigt, schrittweise mehr und mehr Wege zu finden, unseren animalischen Trieben nachzugeben. Wir erhöhen unsere Lust mit Jagdwaffen, mit Feuerstellen zum Kochen, mit Landwirtschaft, mit Nahrungsmittelindustrien, und mit digitalisierten Lieferketten. Wir vermeiden Schmerzen durch die Nutzung von Defensivwaffen, durch Feuerstellen, die Raubtiere abschrecken, durch künstliche Landwirtschaft abseits der gefährlichen Wildnis, durch Maschinen, die gefährliche Arbeiten übernehmen, und durch räumlich distanzierte Diskurse in den ('sozialen') Medien, die ohne Konfrontation im analogen Raum auskommen. Und wir sparen eine Menge eigene Körperenergie, indem wir wärmende Kleidung mit Werkzeugen herstellen, indem wir die Wärme des Feuers nutzen, indem wir Landwirtschaft betreiben, und damit Energie frei wird für Tätigkeiten, die über die tägliche Nahrungssuche hinausgehen, indem wir uns von Maschinen anstrengende Arbeit abnehmen lassen, und indem wir mit nur ein paar Mausklicks durch das World Wide Web voranschreiten.

Doch die durch die Technik angeheizten Triebe kreieren durch ihre ständige Stimulierung neue künstliche Bedürfnisse, die über die natürlichen Bedürfnisse für Gesundheit und Zufriedenheit hinausgehen. Die dadurch entstehende Gier nach immer mehr Ressourcen, die Gereiztheit bei Nichtbefriedigung und der Egoismus im Konsumdenken können für vielfältige Konflikte auf der Welt verantwortlich gemacht werden. Darunter fallen Phänomene wie Krieg, Diskursverengung, Umweltverschmutzung, Ressourcenmangel und Klimawandel. Auch Krankheiten haben ihren Ursprung in der Nutzung von Technik, z. B. durch den Überkonsum von künstlich hergestellter Nahrung; durch chronischen Bewegungsmangel in einer durch Technik ermöglichten Bequemlichkeit; durch chronischen Schlafmangel aufgrund von stimulierenden Digitalgeräten; durch das Wegbrechen von familiären und intimen Sozialstrukturen im Zuge der Urbanisierung, welche Vereinsamung nach sich zieht; durch chronische Stressgefühle in einem entfremdeten Arbeitsleben, das durch technische Innovationen ermöglicht wurde; durch schädliche Substanzen die durch die Nutzung von Technik an die Erdoberfläche gebracht wurden; und durch künstlich hergestellte unhygienische Bedingungen in Städten und industriellen Tierbetrieben, die eine Entstehung und Verbreitung von Krankheitserregern begünstigen.

Die Basis für die ausufernde Triebstimulierung des Menschen ist sein kreativer Verstand, der die unterschiedlichsten Technologien hervorgebracht hat. Er ist aber auch sein einziges Gegenmittel, um in Zukunft einen anderen Weg einschlagen zu können. Um die modernen, durch Technik induzierten Probleme in den Griff zu bekommen, braucht es eine selbstgesetzte und in Gemeinschaften fest verankerte Orientierung, die es uns erlaubt, all den Versuchungen der modernen technischen Entwicklung verlässlich zu widerstehen. Gewisse technische Hilfsmittel wird der Mensch auch in Zukunft benötigen. Das liegt an seiner spezifischen Anatomie, die sich an technische Produkte wie Werkzeuge, Kleidung und Behausungen über zehntausende bis hunderttausende von Jahren evolutionär angepasst hat. Dadurch wurde der Mensch in den Punkten körperliche Stärke, Schutzhaut und Wärmeerhaltung entlastet, wodurch sich Muskelkraft, Behaarung und Immunsystem zurückentwickelt haben, weil die Technik sie nicht mehr in demselben Ausmaß nötig machte. Ganz ohne technische Mittel würden wir deshalb nur schwer unsere natürlichen Bedürfnisse befriedigen können, weil der Konkurrenzkampf mit der restlichen Tierwelt kaum zu gewinnen wäre. Technik an sich bringt jedoch stets unerwünschte Nebenwirkungen mit sich, welche nur durch den Verzicht auf ihre Nutzung ursächlich verhindert werden können. Dies ist besonders bei moderner Technik relevant, die anders als antike Technik gravierende Folgen hat, und außer Kontrolle gerät. Technische Lösungsversuche für neuzeitliche Probleme werden dabei aufgrund des physikalischen Gesetzes von Ursache und Wirkung nie über eine reine Symptombehandlung und Problemverschiebung hinauskommen.

Aufgrund der ursächlichen Verbindung der Wirkmächte der Motivations-Triade (Lust suchen, Schmerzen vermeiden, eigene Körperenergie sparen) mit Techniknutzung im Allgemeinen, und modernen Problemkonstellationen im Besonderen, gilt es sich bewusst gegen diese instinktiven Kräfte zur Wehr zu setzen, wann immer sie über die natürliche Bedürfnisbefriedigung hinausgehen, und künstliche Bedürfnisse bespielen. Der verlässliche Kompass eines sinnerfüllten, gesunden und zufriedenen Lebens zeigt deshalb an: Lust vermeiden, Schmerzen aufsuchen und Energie einsetzen - damit ist ausdrücklich nicht gemeint, dem eigenen Körper Schaden zuzufügen, oder ihn von ausgeglichenen Lusterlebnissen fernzuhalten. Im Gegenteil. Lust beim Essen und Sex, die Vermeidung von
gefährlichen Schmerzen, und die Vorsicht vor Überanstrengung bleiben wichtige Wegweiser des Menschen. Doch sind der geduldige Verzicht auf eine rein hedonistische Lustsuche; die bewusste Auseinandersetzung mit, im Gegensatz zur Verdrängung von, schmerzvollen Gedanken und Gefühlen; sowie der ausreichende Einsatz von geistiger und körperlicher Energie sehr positiv für den Menschen, und den Aufbau und Erhalt einer friedlichen Gemeinschaft, bei der die unterschiedlichen Herausforderungen des Lebens konstruktiv angegangen werden können.

Eine den Gegebenheiten entsprechende Lebenszufriedenheit ist dann die Konsequenz eines Fokussierens auf natürliche Bedürfnisse, weil sich unsere Psyche, inklusive all ihrer Emotionen, als Reaktion auf technikarme Bedingungen im Laufe von hunderttausenden von Jahren Evolution entwickelt hat, wobei über einen sehr langen Zeitraum lediglich mit einfachen Werkzeugen hantiert wurde. Erst die Landwirtschaft brachte vor ca. 10.000 Jahren einschneidende technologische Entwicklungen mit sich, die eine Ansiedlung von Gesellschaften an Ort und Stelle ermöglicht haben.

Wenn wir sozial integriert sind und unsere körperliche Gesundheit intakt ist, wenn wir frei denken und handeln können und unsere Arbeit uns erfüllt, und wenn wir adäquate Umweltbedingungen vorfinden und uns regelmäßig in der Natur aufhalten, dann ist Zufriedenheit das verlässliche Resultat dieser Errungenschaften. Denn Emotionen sind nichts anderes als elektrochemische Signale im Gehirn, die als Feedback-Mechanismus dienen und zukünftiges Verhalten anleiten. Im Fall von Zufriedenheit muss sich also nicht viel ändern; Unzufriedenheit spornt dagegen an, die eigene Situation zu hinterfragen. Der Evolutionspsychologe Douglas J. Lisle (PhD) spricht in diesem Zusammenhang von den "Gemütszuständen von Zufriedenheit und Unzufriedenheit", welche in ihrem Wirkungsbereich klar von der Motivations-Triade (Lust suchen, Schmerzen vermeiden, eigene Körperenergie sparen) zu trennen sind. Damit will er deutlich machen, dass Lust nicht automatisch mit Zufriedenheit, Schmerz nicht automatisch mit Unzufriedenheit, und ein geringer körperlicher Energieeinsatz nicht automatisch mit Gesundheit einhergehen. Während sich andere Tiere weiterhin blind auf ihre Emotionen verlassen können, um ihr Verhalten erfolgreich zu regulieren, müssen wir unseren Verstand benutzen, und unser Denken und Handeln an einen selbstgesetzten und in Gemeinschaften fest verankerten Kompass ausrichten, um Hedonismus, Eskapismus und Bequemlichkeit in Form einer Übernutzung von Technik bewusst entgegenwirken zu können. Mit der Hilfe des psychologischen Mechanismus der Neuroadaptation ist es dann möglich, sich über die Zeit neuronal an komplett andere Umweltbedingungen zu adaptieren, solange die natürliche Bedürfnisbefriedigung sichergestellt wird. Dieser Weg ist kein einfacher, aber der einzige, der den wahren Ursachen moderner Problemkonstellationen auf die Schliche kommt.

Damit ist ein Orientierungspunkt für den Menschen gegeben, der schon früh in der Ideengeschichte auftaucht. Im Judentum soll Schmerz tapfer ertragen werden, auf lustvolle Masturbation soll verzichtet werden, und energiesparende Faulheit hindert einen an der Erfüllung der göttlichen Lebensregeln. In der Bibel nimmt Jesus willentlich Schmerzen in Kauf, um die Menschen zu erlösen. Sie sollen ein Leben im Sinne Gottes führen, wie er es schuf. Wenn man 'Gott' als transzendentales Wort für die gesamte unberührte Natur begreift, dann führt ein absichtliches Aufsuchen von Schmerzen zurück zu dieser Natur. Ein sich gegen die Natur (Gott) wendendes Verhalten ist eine Sünde. Zu den konkret überlieferten Sünden aus dem Mittelalter zählen die sieben Todsünden: Habgier, Völlerei, Wollust, Trägheit, Neid, Hochmut und Zorn. Sie warnen vor einem ungezügelten Hedonismus (Lustsuche) und einem stagnierenden Gemeinschaftshandeln (Energie sparen). Im Islam wird eine übermäßige Lustsuche in Form von Alkoholkonsum verpönt, es wird energieintensive Disziplin gefordert, und Schmerz gilt als Prüfung Gottes, die mit Geduld und Ausdauer überstanden werden kann, um Sünden wegzuwaschen. Beim Hinduismus ist es möglich schlechtes Karma aufzuheben, indem durch Schmerzen willentlich hindurchgegangen wird, es gibt auf Lust verzichtende Enthaltsamkeitsrituale, und der Energieeinsatz für selbstlose Taten hilft auf dem Weg zur Erlösung. Der Buddhismus gründet sich auf Konsum- und damit Technikkritik; die Geschichte Buddhas von seiner Abkehr vom prunkvollen Leben hin zur enthaltsamen Sinnerfüllung ist bekannt. Ohne hier in einer Flut von weiteren Beispielen zu versinken, und ohne für eine bestimmte Glaubensrichtung zu plädieren, sollte die Tendenz der gemachten Aussagen klargeworden sein. Der angenehme Weg der größtmöglichen Luststeigerung, Schmerzminimierung und körperlichen Energieeinsparung ist der Falsche. Warum und in welchem Kontext man diese Lebensweisheit für wahr befindet, ist sekundär. Der umgekehrte Weg ist der Richtige, solange die natürlichen Bedürfnisse für Gesundheit und Zufriedenheit authentisch angestrebt und erfüllt werden. Praktisch heruntergebrochen zeigt der wahre, aber kontraintuitive Kompass eines sinnerfüllten Lebens an: "Begegne dem Unangenehmen".


16.04.2025
* Sascha Schlüter (31) hat vor kurzem sein Masterstudium der Philosophie und Soziologie
von Technik und Wissenschaft abgeschlossen. Zuvor studierte er im Bachelor Politik und
Informatik. Zu seinen Leidenschaften gehören das Lesen, Schreiben und Diskutieren.
Mehr Infos: Verlinkung zu X @SchlueterSascha

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