Schwarz-Blau blüht der Enzian

Schwarz-Blau blüht der Enzian

Wer ernsthaft fürchtet, die ,,Brandmauer" sei gefallen, darf beruhigt sein. Sie ist nicht gefallen. Sie wurde nur verschoben, ausgebaut und verstärkt. Erst durfte man nicht mit ,,Rechtsradikalen" über Abschiebung reden. Jetzt darf man auch nicht mit ,,Linksradikalen" über ein unverrückbares Asylrecht sprechen. Das ist dieselbe Übung - nur statt in rot-grün jetzt auch in schwarz-blau.

Von Johannes Mosmann
Der Attentäter von Aschaffenburg ist psychisch krank. Das auszusprechen, ist jedoch sinnlos und vielleicht sogar gefährlich. Denn verstanden wird in aller Regel nicht der faktische Gehalt der Aussage, nämlich dass der Attentäter nunmal psychisch krank sei, sondern: ,,Ich nehme den Täter in Schutz und gefährde weitere Menschenleben, indem ich von der Hauptsache, nämlich der Migration, ablenke."

Der Täter ist Afghane. Gegenüber diesem offenkundigen Faktum scheint jegliches Denken sinnlos und lächerlich - und vor allem auch herzlos. Jetzt ist keine Zeit für Erkenntnisübungen; diese Stunde gehört dem Mann der Tat! Die Sachfrage, nämlich was das Verbrechen faktisch bedingte und wie Derartiges zukünftig verhindert werden kann, ist damit von vorne herein aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen. Jeder ist schon a priori ein Wissender, einfach weil er ,,Bürger" ist.

So werden Wirklichkeitsinteresse und Ursachenforschung ersetzt durch eine bereits vorgebildete, allgemeingültige ,,Erklärung" der Wirklichkeit. Für das, was sowieso jeder sieht, liefert das Faktum, die Schreckenstat, bloß das ,,Beispiel". Die vorgefasste Meinung bedarf keines genaueren Faktenwissens und keiner Evidenz, weil sie durch eine viel stärkere Kraft ,,geerdet" wird: Sie resoniert mit Weltbild und Stimmungslage einer immer breiteren Masse. Und praktischerweise liegt da unten, in den Sümpfen der Gruppenseele, auch schon die Lösung bereit - es muss nur endlich einer tun!

Derweil spüren die Protagonisten unserer ,,demokratischen Parteien" emsig immer neue ,,Feinde der Demokratie" in den illegalen, teils unterirdischen Abzweigungen des Meinungs-Korridors auf. Dabei hat die Demokratie in Wahrheit nur einen einzigen Feind, nämlich unsere Neigung, den Diskurs über eine Sachfrage zu überspringen bzw. ihn durch Polarisierungen zwischen gefühlten Zugehörigkeiten zu Lagern, Gruppen, Parteien, Nationen usw. zu ersetzen. Und genau das haben die ,,demokratischen Parteien" zur Perfektion getrieben.

Wer a priori Recht hat - bezüglich Migration, Klima, Russland oder was auch immer - ist a priori Anti-Demokrat. Das ist das Virus im System, der genetische Defekt, an dem unsere ,,freiheitlich-demokratische Grundordnung" notwendig zu Grunde geht. Und von dieser tödlichen Krankheit sind wir alle befallen, ausnahmslos, ob wir nun als Demokraten, Faschisten oder Friedenstauben gelesen werden (möchten).

Polarisierung können wir inzwischen alle gut, schließlich haben wir alle dieselbe Qualifizierungsmaßnahme erhalten. Das lief noch unter dem Arbeitstitel ,,Corona-Pandemie". Was gegen das Virus zu tun war, bedurfte keines Beweises, weil man die Toten und die Zahlen ja ,,selber sehen" konnte. Selbstverständlich wurden also Kritiker der Regierungsmeinung nicht als Menschen gelesen, die Corona (möglicherweise anders) verstehen und (möglicherweise anders) bekämpfen wollten, sondern als ,,Leugner" des Leids ihrer Mitmenschen. Rassisten, Demokratie-Feinde, Wissenschafts-Leugner!

,,Verstehen" wurde ein Schimpfwort. Wer verstehen will, steckt sich an mit der falschen Meinung, mit dem absolut Bösen, ja läuft womöglich ins feindliche Lager über, wird zum Beispiel ein ,,Putin-Versteher". Für oder gegen etwas soll der gute Bürger sein, und vor allem: Sich empören soll er! An der zur Schau gestellten verständnislosen Empörung erkennt man die gute Gesinnung, die korrekte Zugehörigkeit echter ,,Demokraten".

Doch wer den Attentäter von Aschaffenburg und seine Tat nicht verstehen will, kann nunmal nichts dafür tun, die Gesellschaft sicherer zu machen. Um praktische Konsequenzen ziehen zu können, müssen selbstverständlich alle verursachenden Faktoren verstanden werden. All diejenigen, die dagegen in der Messerattacke vor allem einen Beweis sehen für das, was sie selbst schon immer über Migration zu wissen glaubten, missbrauchen das Schicksal der Opfer für die eigene, abstrakte Agenda und tragen nichts zu einer Verbesserung der realen Zustände bei.

Das heißt nicht, dass der Standpunkt von Schwarz-Blau absolut falsch ist. Er ist nur insofern absolut falsch, als er absolut richtig sein und dann allein auf Basis seiner monokausalen Erklärung auch noch zur politischen Handlung führen will. Die Herkunft des Attentäters ist jedoch, wenn überhaupt, nur ein Faktor neben anderen. Und es müssen viele weitere Faktoren in den Blick genommen werden, die in der Summe die Tat ermöglichten. Dazu zählen auch die schwere psychische Erkrankung des Täters sowie die Frage, weshalb der behandelnde Arzt trotz diagnostizierter Schizophrenie und vermutlichen Hinweisen auf Fremd- und Selbstgefährdung entschied, den 28jährigen in die Asylunterkunft zu entlassen.

Nimmt man alle die Gewalttat bedingenden Faktoren zusammen, ist es durchaus möglich, dass daraus als politische Handlungsempfehlung letztendlich gerade das Gegenteil dessen folgt, was momentan von allen Parteien mehr oder weniger radikal gefordert wird. Es könnte z.B. sein, dass die Tat nicht durch weniger, sondern durch mehr Hilfe für Asylsuchende zu verhindern gewesen wäre. Der Tagesspiegel berichtete jedenfalls bereits am 06. Dezember 2023, dass rund eine Million der in Deutschland lebenden Asylsuchenden psychisch krank sei, oftmals entsetzliche Gewalt erlitten habe, aber kaum medizinische Versorgung erhalte - was ,,auch ein gravierendes Sicherheitsrisiko" darstelle.1

Das Gegenargument der Neuen Rechten liegt auf der Hand: Was kümmern uns die gesundheitlichen Probleme von Ausländern? Gerade weil wir die nicht alle versorgen können, hätten wir sie nicht aufnehmen dürfen. Die scheinbare Kausalkette bleibt also intakt: Hätte Deutschland alle Flüchtlinge an den Grenzen gnadenlos zurückgewiesen, dann würde der zweijährige Junge noch leben. Oder anders gesagt: Eine angeblich links-grüne Agenda für offene Grenzen habe das Kind und den mutig eingreifenden Passanten auf dem Gewissen.

Diese Kausalkette hat allerdings einen Makel, der zugleich auf eine viel schwieriger zu besprechende Auseinandersetzung hinweist, die im Hintergrund der aktuellen Migrations-Debatte als Kulturkampf um Substanz und Identität einer freien Gesellschaft tobt. Denn das Argument, dass weniger Menschen stürben, wenn schneller abgeschoben oder bereits an den Grenzen zurückgewiesen würde, ist ja so nicht ganz korrekt formuliert. Genau genommen würden, wenn es denn stimmte, nämlich zwar weniger Menschen in Deutschland sterben, aber nicht weniger Menschen überhaupt. Das Argument lautet also, ehrlich formuliert, dass weniger ,,Deutsche" sterben, dafür aber viel mehr andere Menschen in anderen Ländern, direkt, oder durch die Hand des abgeschobenen Gewalttäters.

Wer auf der rechten Welle mitschwimmen aber dennoch als Menschenfreund gelten möchte, redet sich diese Sache gerne damit schön, dass er nur was gegen ,,Illegale" habe. Diejenigen, die wirklich um Leib und Leben fürchten müssen und Anspruch auf Asyl haben, seien Willkommen. Das sind jedoch gerade die ,,Illegalen"! Denn tatsächlich gibt es längst keine Möglichkeit für Schutzsuchende mehr, legal nach Deutschland einzureisen. Der soeben von Schwarz-Blau verabschiedete ,,5 Punkte Plan" verschärft diese Situation nochmals dahingehend, dass nun auch eine zeitweise Aufnahme solcher berechtigter Schutzsuchender, die es irgendwie bis zur deutschen Grenze schafften, verhindert werden kann, und damit auch die Möglichkeit, überhaupt einen Asylantrag zu stellen. Der Bundestag erlaubt nun also ,,Push-Backs", die nach internationalem Recht illegal sind - wer das richtig findet, sollte sich die Sache mit dem Menschenfreund nochmal durch den Kopf gehen lassen.

Nun hat jeder Staat zwar selbstverständlich vorrangig die Sicherheit der eigenen Staatsbürger zu garantieren. Und es mag so scheinen, als würde die Bundesregierung genau das tun, indem sie sich für die Not anderer Staatsbürger oder Staatenloser unempfänglich zeigt. Sicher bleibt dann auch der eine oder andere Gewalttäter draußen, der sonst unbemerkt eingewandert wäre. Nur - ein hermetisch abgeriegelter, für das Leid Schutzsuchender unempfänglicher, aber auch für ,,fremde" Ethnien und Kulturen undurchlässiger ,,deutscher" Staat wäre selbst die größte Bedrohung für seine Bürger*innen.

Zu Ende gedacht, und über mehrere Jahre oder Jahrzehnte fortentwickelt, würde ein solcher Staat nämlich am eigenen Widerspruch zu Grunde gehen. Seinen ökonomischen Bedarf müsste er weiterhin der Weltwirtschaft entnehmen, seine politischen Aktivitäten auch in arme Ländern und Kriegsgebiete hinein erstrecken, seine Kultur, falls sie nicht ganz vertrocknen sollte, im Dialog mit allen Völkern dieser Erde weiterbilden, und seine Demokratie, wenigstens formell, auf die ,,Menschenrechte" im Allgemeinen gründen.

Zugleich aber würde er seine wirtschaftliche, politische und kulturelle ,,Identität" mit dem physischen Inhalt seiner äußeren Grenzen verwechseln - und das Menschenrecht mit einem Vorrecht für Deutsche. Ein solcher Anachronismus kann nicht funktionieren, sondern degeneriert wirtschaftlich, politisch und moralisch. Ein ,,deutscher" Nationalstaat im Sinne einer Gleichsetzung von Staats-, Wirtschafts- und Kulturnation hat im Europa des 21. Jahrhunderts keinerlei Berechtigung mehr und wird von seinen Nachbarn in Anbetracht der Geschichte auch nicht geduldet. Hoffentlich bekommen wir im Februar keine Regierung, die diese Tatsache unbedingt erst noch herausfinden muss.

01.02.25
Johannes Mosmann ist Geschäftsführer und Mit-Gründer der Freien Interkulturellen Waldorfschule Berlin, einer sozialintegrativen Gesamtschule, die sich bewusst gegen die Vorstellung einer ,,Leitkultur" wendet und neben Englisch u.a. auch Türkisch und Arabisch unterrichtet. Er ist begeistert vom gesellschaftspolitischen Ansatz einer ,,sozialen Dreigliederung" (gleiches Recht, solidarische Wirtschaft, freie Kultur) und Autor diverser Sachbücher und Essays zu diesen und anderen Themen. Seine aktuelle Buchveröffentlichung ,,Die erweiterte Demokratie" kann überall im Handel, oder direkt beim Verlag erworben werden:
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